Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 16. Januar 1943

16. Januar 1943

Meine liebe Elsbeth!

Vorerst einen recht, recht herzlichen Gruß. Hoffentlich ist es Dir nach den anstrengenden 3 Wochen gut bekommen. Heute habe ich meine Weißbrotbescheinigung bekommen. Aber, leider wird von der Division keines mehr gebacken. Unser Spieß, übrigens ein Neuer, will sehen, daß er selbst etwas Weißbrot backen läßt. Ich habe noch von zu Hause etwa 3 Scheiben.

Der jetz bisherige Spies fuhr ja mit mir zusammen in Urlaub. Erzählte ich Dir nicht, daß er so wahnsinnig beladen war und telegrafisch zurückgerufen wurde. Teupel schrieb es mir ja nach Godesberg. Weißt Du auch weshalb er zurückmußte. Der Fourier hatte ausgesagt, daß er (der Spies) befohlen habe, ihm Öl, Zucker, Mehl, Butter und Fleisch herauszugeben – aus Kompaniebeständen. Gestern hatte er sich dieserhalb vor dem Kriegsgericht zu verantworten. Er hat da ausgesagt, daß er nicht nur für sich die Sachen entnommen habe, sondern auch an mich Sachen abgegeben habe. So ist er – ich glaub’, mit Mühe und Not – freigekommen und dem Batl.--Kommandeur zur disziplinären Bestrafung überwiesen worden. Man hat es wohl in etwa so ausgelegt, daß er „im allgemeinen“ Urlaubern Sachen für zu Hause mitgegeben habe. Ich hatte ja auch dieselbe Ansicht, deshalb bin ich ja vollkommen ahnungslos und man würde mir nie was machen wollen. Ob es nun mit seinem Offz. noch was wird, ist wohl fraglich.

Im Augenblick komme ich mir so unglücklich placiert vor. Ich schaue sowas im Kompanietrupp herum, kann aber keine regelrechte Arbeit übernehmen. Am liebsten wäre mir, ich käme eher morgen wie übermorgen ins Erholungsheim. Am Allerliebsten wäre es mir ja, ich wäre wieder gesund und könnte arbeiten. Vorige Nacht habe ich mindestens eine Stunde draußen im Freien gehockt und gebrochen und

gesch….

22. Januar

Bis soweit kam ich am 16., als das Licht ausging. Am 17. hieß es des morgens: Sofort feldmarschmäßig zur Schreibstube zum Abmarsch ins Erholungsheim. Der gesamte Transport sollte sich in dem Feldlazarett sammeln, in dem Lt. Kampmann liegt. Des abends waren wir da und ich habe noch einige Stunden bei ihm gesessen. Er läßt Dich ganz herzlich grüßen und Dir auch für Deine Grüße danken. Es geht ihm fabelhaft. Das Bein macht riesige Fortschritte. Am andern Morgen begann eine denkwürdige Fahrt. Ein Oberarzt führte den etwas über 40 Mann starken Transport. In aller Herrgottsfrühe fuhren wir mit 2 Omnibussen bis zum Bahnhof Nähe Rom, kamen an, als der Zug sich gerade in Bewegung setzte. Und es fährt täglich sonst nur der eine Urlauberzug. Nun, da die Strecke kaputt war, war gerade Pendelverkehr. Gegen Mittag fuhr nochmal einer. Nach 2 Stunden hielt er, 2 Stunden warten auf Omnibusse und LKW. Mit diesen fuhren wir dann 4 Stunden um hinter die zerstörten Teile der Strecke zu kommen. Wir kamen an, …… als der Zug, der bis Berlin durchgehn sollte, sich wieder mal gerade in Bewegung setzte. Nachts, kalt, auf dem Bahnsteig. Der Oberarzt, ein prächtiger Kerl, erreichte nun nach einer halben Stunde, daß — nun höre und staune — der Fernurlauberzug Italien/Berlin, der einmal am Tage verkehrt, zurückgerufen wurde und uns ein ganzer Waggon leergemacht wurde.

Nach 1½ Stunden kam er an. Durch die Versäumnis war aber nun wieder mal die Strecke vorher kaputtgeworfen worden, sodaß wir des Morgens wieder festsaßen. Der Oberarzt organisierte 2 große Krankenwagen für uns, die uns noch des Vormittags bis Florenz brachten. Hier organisierte er einen 1. u. 2.-Klasse-Wagen, der nun bis zur Bestimmungsstation immer hinter entsprechende D-Züge gehängt werden sollte, sodaß wir nicht mehr mit dem ganzen Gepäck immer umzusteigen brauchten.

In Florenz hatten wir von 10 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts Aufenthalt. Da habe ich nun mal schön in sehr guten, internationalen Lokalen zu

Mittag und zu Abend [gegessen]. Zwischen den beiden Mahlzeiten habe ich mir Florenz angesehen. Ich war sprachlos. Soviel Schönes an Bauwerken, besonders an Kirchen (Im Dom sah ich 4 Plastiken von Michelangelo), ebenfalls die Copie in Originalgröße des David von Michelangelo. Anziehend waren die Geschäftsstraßen. Was es da noch gibt!!! Ich hätte Dir gern etwas gekauft. Abendtaschen gab’s da (so für Theater u. Konzert), ich war einfach weg. Weißt Du, so Sachen, wie wir sie uns schon von ferne gedacht hatten, aber die niemals so unserem Wunsche entsprechend zu finden waren – auch vor dem Krieg nicht. Und hier übertreffen sie noch das Gedachte. Auch wunderbaren Silberschmuck gab’s. Aber – das leidige Geld reichte nicht.

Ich kam über eine Brücke über den Arno, die noch aus alten Zeiten, wie so vieles, stammt. Rechts und links auf der Brücke waren alles Geschäfte, sodaß die Brücke wie eine Geschäftsstraße aussieht und Du also nicht von der Brücke ins Wasser sehen kannst. Die Geschäfte waren noch die alten Läden aus dem Mittelalter, wo schon zu Michelangelos Zeiten Schmuck verkauft wurde. Es sind ganz, ganz winzige Lädchen, aber zum größten Teil mit ausgewählten Sachen. Besonders Silbersachen, daß einem die Finger jucken. Dann die vielen, vielen Kunstgeschäfte, die so vieles Alte, Schöne an Kunstgegenständen und Bildern ausgestellt haben.

Für 100 Meter braucht man gut seine 20 Minuten zu gehen, weil man einfach nicht wegkommt.

Als es dunkel wurde, ging ich zum Essen und anschließend begab ich mich zu meinem Waggon (Abteil 1. Klasse, geheizt). Nachts gings los und kamen mittags in Venedig an. Venedig zu beschreiben, ist schwer. All das Schöne kann man mit Worten nicht ausdrücken. Fünf Stunden hatten wir Zeit. Durch enge und engste Gäßchen, die aber z. T. Hauptgeschäftsstraßen sind, gingen wir zum Markusplatz. So etwas, wie diesen Platz, gibt es wohl nur einmal auf der Welt. Der prächtige Dom aus buntem Marmormosaik, der herrliche Dogenpalast, Seufzerbrücke, die vielen Kanäle und Kanälchen mit ihren Gondeln, das bunte Leben und Treiben. Viele Menschen mit ausgesprochenen Künstlerköpfen.

Einen Stand sahen wir, an dem 2 Mädchen Bücher verkauften und dabei auf einen

Mann hinwiesen, der gedankenverloren auf einem Stuhl saß. Großer Künstlerhut, melierte Haare, „stechenden Künstlerblick“, Künstlerbart, etwa 45 Jahre. Er war der Verfasser und gab an Käufer seines Buches Autogramme. Auch die weltberühmte Rialto-Brücke sahen wir. Auf dieser sind ebenfalls Verkaufsläden.

Zu kaufen gibt es in Venedig noch alles. Besonders an Eßwaren ist noch vieles Leckere. In einem kleinen Geschäft (einem von vielen, vielen) konntest Du ein ganzes, fertiges Mittagessen zusammenkaufen. Alles ist nämlich noch heiß. Kartoffeln in Tomatensauce oder gebraten, Spinat, Kohl, Salat, Pilze, Fisch, Hähnchen, Kaninchenbollen, Kaninchenköpfchen, sonstiges Geflügel, Gurken, Zwiebel, also alles. Viele Venezier machen es nämlich so, daß sie in den Geschäften das Essen zusammenstellen und kaufen und damit in das nächste Restaurant gehen, sich Teller und Bestecke geben lassen und dort essen. Die Restaurants sind darauf eingestellt und finden nichts bei. Sie verkaufen an den Gast dann lediglich ihren Wein. Ich sage Dir, wenn Du durch eine solche Straße gehst, läuft Dir am Ende das Kinnwasser förmlich aus dem Munde. So ging es mir auch und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und kaufte mir ein Hähnchen. Es war so zart und saftig, daß das Fleisch so von den Knöchelchen abfiel, wenn man es nur hart ansah. Dann fallen noch die vielen Blumenläden auf, mit Rosen, Narzissen, Nelken, Mimosen, Orchideen, Flieder und vielen, vielen anderen schönen und seltenen Blumen. Bei der Seufzerbrücke kommt Frauen das Gruseln an.

Von der Rialto-Brücke sind wir bis zum Bahnhof auf dem Wasser gefahren. Die Fahrt ist schön. Rechts und links die alten Patrizierhäuser und Paläste mit ihren schönen Anlegestellen für die Gondeln. Nun genug von Venedig. Um 18,00 Uhr fuhren wir das letzte Stück und kamen in der Nacht am Fuße der Dolomiten an. Gestern Morgen gings mit Omnibussen tief in die Dolomiten herein. Der Weg führte immer über die Paßstraße bergan, durch romantische Gebirgsschluchten. Die Fahrt bis zum Heim, immer mit der Aussicht auf die Dolomiten, Schluchten, Almen, war ein Genuß. Aber wie erstaunten wir, als wir ankamen. Davon jetzt:

In einem wunderbaren Kessel der (ich glaube) Rosetta-Gruppe liegt San Martino di Castrozza in etwa 1450 m Höhe. Im Osten, Westen und Norden

erhebt sich das mächtige Gebirgsmassiv ganz steil. Nach Süden ist der Kessel offen und läßt die Sonne so eben recht fest in den Kurort hineinbrennen. Kalte Winde werden durch den Gebirgsstock ja abgehalten. Die Berge werden wohl um 3.000 m Höhe haben und sind steil und ganz zackig. Der Kurort besteht aus einer Anzahl riesiger, internationaler Hotels und Pensionen. Die 3 besten Häuser sind von der Division gemietet. Aber wie leben wir hier als Landser?

Nach der Entlausung bekommt jeder einen wunderbaren, braunen, wollenen Hausanzug und zwei Nachthemden. Ich liege z. B. im Haus Colbican. Große Sonnenterrasse mit Liegestühlen. Ich habe ein Einzelzimmer mit fließendem Kalt- u. Warmwasser und Bad nebenan, gehört aber zu meinem „Appartement“ und ist nur von meinem Zimmer zu erreichen. Heizung selbstredend in jedem Zimmer. Vestibül, Schreibzimmer mit Klubmöbeln usw. Schuhe und Stiefel werden vor die Tür gestellt. Trinken kann man im Hause. Essen ist gemeinsam. Aber wie.

Wunderbarer Speisesaal. Ober und Kellnerinnen bedienen. Zu den Mahlzeiten und des Nachmittags spielt eine Kapelle von 4 Mann (Klavier, Geige, Cello und ?). Das Essen, muß ich noch erwähnen, ist im Haupthaus, 2 Minuten von hier. Nachmittags wird der Kaffee im Unterhaltungssaal gereicht. Alles an kleinen Tischen mit schweren Polstersesseln. Parkett, schwere Teppiche. Sollst mal sehen, wie wir uns in den Klubmöbeln wohlfinden. Abendessen wieder im Speisesaal. Im Speisesaal wird nicht etwa an riesigen Tafeln, sondern an Tischchen mit je 3 – 5 Mann gegessen. Bibliothek sorgt für Lesestoff, abends ist nach dem Essen öfter Unterhaltung im Speisesaal. Gestern wurde der Jannings-Film „Altes Herz wird wieder jung“ gegeben. Außerdem ist eine Berliner Künstlertruppe hier. Also, Du kannst Dir vorstellen: Wir leben tatsächlich wie im Frieden in einem eleganten Wintersporthotel von Weltruf. Für Skier und

Schlitten ist ebenfalls gesorgt.

Dann das Essen:

Morgens immer: Kaffee mit Milch und Zucker, Brot mit Butter und Marmelade.

Gestern Mittag: Reissuppe, Kartoffeln, Blumenkohl, Rumpsteak, Pudding

nachmittags immer: Kaffee mit Milch und Zucker, 2 Stück Kuchen

gestern Abend: Suppe, Kartoffeln mit Buttersauce, Fisch (so eine Art Forelle hier aus denGebirgsbächen) mit wunderbarer Mayonnaise, Nachtisch: 1 Apfel.

Du siehst, man kann es schon hier aushalten. Ärztliche und zahnärztliche Betreuung im Hause. Ich muß ab morgen irgend etwas nehmen. Es wird aber auch Zeit.

So schön die Fahrt bis hierhin z. T. war (Florenz, Venedig) so manche Stunde habe ich aber auch im Zug auf kaltem Lokus nachts gesessen und manches von mir gegeben. Auch hier ist es nicht vom Besten. Aber, hoffentlich tun die 3 Wochen etwas daran. Ich werde so richtig faulenzen und faulenzen, im Liegestuhl auf der Terrasse in der Sonne liegen usw.

Post schicke mir keine hierhin, denn wer weiß, wie lange sie läuft und sie kommt dann gerade an, wenn ich den ersten Tag von hier weg bin. Höchstens eilige Sachen, dann aber nach hier und an die alte Feldpost-N°. Schreibe aber ruhig weiter an die L 50239.

Anschrift für hier wäre:

Feldw. L., Genesungsheim Panzerdivision
Hermann Göring
San Martino di Castrozza üb. Dienstpostamt Trient.

Anbei einige Bilder. Von Florenz hatte ich auch so ein Heftchen, ist aber bei der Entlausung irrtüml. im Anzug geblieben und verdorben.

Und nun grüße und küsse ich Dich ganz innig auf Deinen lieben, guten Mund und bin immer
Dein Hannes