Hannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 30. Januar 1944

30. Januar 1944

Meine liebe, liebe Elsbeth!

Sonntag-Morgen ist’s. Seit langem – abgesehen vom Urlaub – fühle ich mich wieder mal sonntäglich. Ich war nämlich gerade zur Kirche. Gestern habe ich wieder einen Gang gemacht bis zum Rolle-Paß. Nachher haben wir die Serpentinen der Straße abgeschnitten und sind den Berg querfeldein hinangestiegen. Bis zum Bauch sind wir manchmal in den Schnee eingesackt. Als wir (ein Kamerad und ich) auf der Paßhöhe waren, so ziemlich über 2000 m, hatten wir einen großartigen Blick in die Berge, aber ein Wind pfiff da oben, daß man kaum stehen konnte. Die vom Sturm aufgewirbelten Schneekrystalle schlugen einem so ins Gesicht, daß man es nicht unbedeckt halten konnte, so weh tat es. Des Abends gab die Künstlertruppe eine Vorstellung. Es war nicht überwältigend, aber ganz nett. Zum Schluß mischten sich Künstler und Künstlerinnen

„unters Volk“, gingen von Tisch zu Tisch. Zu unserem Tisch kam allerdings keine. Ich sah sicher zu „gesetzt“ aus. Aber über einen Uffz. am Nachbartisch habe ich gelacht. Dort saß eine Künstlerin und sagte: „Jetzt soll sich jeder etwas von mir wünschen!“ Der eine bat um einen Kuß, der nächste um ein Bild mit Autogramm, die beiden nächsten wollten mal in den Arm genommen werden. Sie tat alles. Nun kam der Uffz. dran (derselbe, mit dem ich vor 2 Tagen spazieren war). Er sagte: „Entschuldigen Sie Fräulein, aber ich hätte gern eine . . . . Zigarre.“ Heute Morgen hatte ich nochmal einen Anfall alter Güte mit Krämpfen, Erbrechen und Erbrechen „von hinten“! Aber nun ist es wieder vorbei. Ich war nochmal beim Arzt. Ja, die Pillen müssen geholt werden!

Jetzt ist bald die Hälfte der Zeit herum und immer ist noch nichts dagegen getan. Auf das Weitere bin ich einmal gespannt.

Manchmal habe ich hier so komische Gedanken. Halb Zivilist, halb Soldat. Noch nie hat es bei mir beim Militär, außer Urlaub so etwas gegeben.

Urlaub ist natürlich schön, aber da denkt man auch immer, der steht einem zu. Aber hier das kommt so ganz in den Schoß gefallen.

Die Sonne scheint heute wieder ganz herrlich. Man kann das gar nicht beschreiben, all das Schöne. Könnte es nur Friede sein und Du und ich und Dorotheechen zusammen hier wohnen. Wenn ich daran denke, läuft mir das Wasser am Herz zusammen. Aber wir machen so etwas mal bestimmt. Was wollen wir mal nach dem Krieg alle machen? Einmal nach Paris, einmal eine Fahrt durch den Apennin, einmal in die Berge. Nun, ein Dreijahresprogramm steht damit ja schon fest.

Mit diesen Gedanken an das ewige „Später“ will ich Dir einen festen innigen Kuß geben.

Ich bin immer
Dein Hannes.