Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 20. Oktober 1943

20. Oktober 1943

Meine liebe Elsbeth!

Vorerst einen herzlichen, ganz herzlichen Gruß! Hoffentlich wird dieser Brief in einem Zuge und nicht auf Stottern (der letzte brauchte 3 Tage) fertig. Heute war ich mit Kampmann im neuen Raum unterwegs zur Erkundung der Sperrmöglichkeiten. Das Gebiet liegt in den Ausläufern des Gebirges. Es ist einfach ein wunderbares Gebiet. Besonders die vielen Hohlwege,

die von der Hauptstraße abgehen und irgendwo in einem vollkommen unberührten Bergnest enden und nicht mehr weitergehen, sind von ganz besonderem Reiz. Rechts und links stehen riesige Bäume, Edelkastanien. Die Ortschaften sind alt, uralt. Die Sträßchen so eng, daß man noch nicht einmal mit dem PKW mehr durchkann. Esel ist das Verkehrsmittel der Bewohner, die malerisch in Lumpen einhergehen. Meist wird das Dorf von einer uralten, stilreinen Kirche, sowie einem Schloß, allerdings ganz anderer Art als unsere Schlösser sind, gekrönt. In den Hohlwegen gibt‘s unendlich viele große Höhlen. Welchem Zweck sie dienen, ist mir nicht klar. Alte Frauen sind durchweg von einer außerordentlich seltenen Häßlichkeit.

Wenn man Märchenbücher nachschlägt und sieht Hexenbilder abgebildet (Hänsel und Gretel), könnten die alten Frauen sehr gut Modell gestanden haben. Strähnige, unsaubere und ungepflegte Haare, gelbes, verschrumpftes und verrunzeltes Gesicht mit Warzen, langer Nase, Kropf, Buckel usw. Ich glaube, unser Dorotheechen würde einen weiten Bogen darummachen. Immer und überall sieht man im Hintergrund die schöne charakteristische Gebirgskette. Es ist einfach eine Pracht.

Und wir, wir fahren durch diese Schönheit, die wunderbaren, uralten Dörfer; unsere Blicke trinken sich wohl satt, aber immer ist mein Bleistift auf der Karte und malt Zeichen über Zeichen. Alles sieht man, aber was ist der Grund? . . . . „Sperren“, d.h. praktisch: Vernichtung alter Häuser und Schlösser, die einem Maler das Herz höher schlagen ließen, Zerstörung von Brücken, manche darunter, über die die alten Römer schon einherzogen, Aufsprengen von Straßen, verminen usw. usw.. So vergeht die Fahrt mit Schauen und Zeichen machen. Und ist man auf dem Komp.-Gefechtsstand angekommen, hat Auge und Herz sich sattgetrunken an der Schönheit, hat aber die Karte sich überdeckt mit rotem Stift. Und dann fängt die Arbeit an. Herstellen von Planpausen, Meldungen ans Batl. Verteilung der Abschnitte an die Zugführer. Und so Manches ist zu erledigen. Diesmal haben wir mit

unserem Komp.-Gefechtsstand Glück gehabt. Während wir bisher in Bauernhäusern gelegen haben, sind wir diesmal in einem uralten, halb burg-, halb schloßartigem Gebäude eingezogen, mit Bogengängen, in denen man jetzt noch Geister vermuten möchte. In der Bibliothek fand ich das Testament in etwa 20 Bänden, jeder Band in Schweinsleder gebunden. Es handelt sich um ganz alte Stücke. Außerdem fand ich ein Buch mit Bildtafeln über christliche Kunst in Süditalien, in der Hauptsache aus Capua, Benevento, und Teano. Wäre das Buch nicht so groß, etwa 50 x 70 cm, brächte ich es gern mit. So will ich, wenn ich Zeit dafür finde, wenigstens die schönsten Tafeln abtrennen. Der Rest mag dann, wenn wir abrücken, mit dem ganzen Bau zusammenstürzen. Es gehen dann auch die im Bau hängenden Ölgemälde mit kaputt.

Und nun fallen mir die Augen zu vor Müdigkeit. Nicht so schlimm allerdings wie gestern. Durch die vielen schlaflosen Nächte kann man ja schlafen, wo man steht. Gestern bin ich schon – höre und staune – um 19 Uhr zu „Bett“ gegangen. Nachts um 23,40 Uhr kam jedoch schon wieder eine eilige Meldung. Ich habe hier zum Schlafen eine Ottomane gefunden. Es schläft sich tadel-

los darauf.

Und nun geht es wirklich nicht mehr. Hab‘ keine Sorge um mich und bereite Dich laß Dich ganz herzlich von mir grüßen und innig küssen.

Immer Dein Hannes

[Die markierten Buchstaben: Teano Provinz Caserta]