Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 29. Dezember 1940

29. Dezember 1940

Meine liebe, liebe Elsbeth!

Vorerst einen recht herzlichen Gruß. Diese Nacht bin ich um 2 V Uhr hier gelandet. Der Chef hatte dem Burschen gesagt, er solle solange aufbleiben, um mir direkt eine starke Tasse Kaffee zu kochen. Außerdem hatte er den Wagen zum Bahnhof nach V. geschickt. Der Fahrer hatte von 21,30 Uhr bis 2,00 Uhr nachts gewartet. Mit den Zügen war es wirklich toll. Es mußten Vor- und Nachzüge fahren und tausende sind trotzdem nicht mitgekommen. Ein- und Aussteigen war prinzipiell nur durch die Wagenfenster möglich. Und trotzdem hatte ich von Köln bis hierher immer Sitzplätze. Mannchen war eben auf Draht. In Köln hielt eine Tür direkt vor meiner Nase. Und da der Zug gerade eingesetzt war, war er natürlich noch leer. In Maastricht, wo wir warten und umsteigen mußten, hörten wir so hinten herum, daß der Zug nach V. auf dem und dem toten Nebengleis stehe und nachher in den Bahnsteig eingeschoben würde. Hänneschen mit noch einigen anderen Köpfchen-Köpfchen und stekum über einige andere Geleise zu dem leer und einsam da stehenden Zug herüber. Wir konnten uns schöne Eckplätze aussuchen und schon setzte sich der Zug zum Bahnsteig in Bewegung und sahen nun von gesicherten Plätzen aus den Ansturm. Ca. 1.500 Soldaten kamen nicht mit. Die Gänge waren derart vollgestopft. Pinkeln durchs Fenster.

Und heute morgen meldete ich mich: „Uffz. Ließem meldet sich aus Urlaub zurück!" beim Chef. Er lud mich zu einer Tasse Kaffee und ich mußte erzählen. Über das Bildchen hat er sich gefreut. Ach, ich habe noch vergessen. Als ich nachts auf mein Zimmer kam, war auf meinem Schreibtisch etwas Nettes angerichtet. Ein Buch aus der kleinen Bücherei mit einer Widmung, etwas Zigaretten und einige Süßigkeiten mit Weihnachtspapier und Tannengrün waren schön aufgebaut. Ich habe mich sehr gefreut.

Nun ist es Nachmittag geworden. „Er" ist weg und ich sitze hier in seinem Zimmer und höre das Wunschkonzert, während ich schreibe, denke ich an die ach so herrlichen Tage mit Dir zusammen. Es war doch ein wahres Fest. Nur zwei Dinge bedrücken mich so sehr. Erstens: Dein Zustand hat mir nun garnicht gefallen. Statt Besserung meine ich eher das Gegenteil gemerkt zu haben. Und zweitens: Ob an dem fraglichen Abend, der für mich so schön war, nichts passiert ist. Schreibe mir bitte sofort wenn sich herausstellen wird, ob meine Befürchtungen umsonst oder zu Recht bestehen. Ich glaube, ich würde mir mein Leben lang die bittersten Vorwürfe machen und keinem Menschen, der Dich kennt, in die Augen sehen

können. Und meine Überzeugung ist, daß dies wirkliche Sünde war. Allerdings ist das meine Überzeugung und nicht die der Kirche. Denn m.E. ist der Mensch sündig, der einem anderen soviel Leid zufügt, wie ich es u.U. Dir angetan habe.

Aber ich weiß manchmal nicht mehr recht, wohin sich meine Gedanken verirren.

Aber nun Schluß damit. Also Du schreibst hierüber so bald als möglich.

Immer noch stehen mir die leuchtenden Augen Dorotheechens vor mir, wie wir am Heiligen Abend am Weihnachtsbaum standen. Sie ist doch ein ganz, ganz liebes Kind. Aus der Ferne sieht man ja doch die kleinen Eigensinnigkeiten und Unartigkeiten, die ja wohl auch die „bravsten" Kinder haben, nicht mehr so. Und so habe ich denn auch Dorotheechen in schönster Erinnerung, wie sie die Mutti übers Bäckchen streichelt und sagt, „Ei, liebe Mutti, ist jetzt wieder gut."

Ich gebe Dir jetzt einen besonders herzlichen Kuß und danke Dir für alles Schöne und Gute und Liebe, was ich in diesen Tagen durch Dich empfangen habe. Ich habe in meinem Herzen alles aufgespeichert und werde bis zum nächsten Wiedersehen davon zehren. Sieh nur zu, daß Du bald, recht bald wieder besser wirst. Vielleicht ist dies jetzt nach den aufregenden Tagen auch eher möglich. Ich möchte Dir so gerne helfen. Aber meine größte Hilfe besteht leider nur darin, daß ich immer Dein getreuer Hannes bleibe, der Dich liebt und verehrt.