Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 1. September 1940

1. September

Meine ganz, ganz liebe Elsbeth!

Gestern konnte ich Dir den fälligen Brief nicht schreiben. Von 5,00 Uhr morgens bis heute morgen um 5,00 Uhr war ich nämlich unterwegs, also 24 Stunden in einem durch. Wir waren in Paris und unser Wagen hatte Panne mit der Kuppelung. Besichtigungszeit in Paris selbst ist ja nur von 13–19 Uhr. Aber ist das eine schöne Stadt. Was da alles an Prachtbauten zu sehen ist und an schönen Straßen! Angefangen von dem riesigen alten Rathaus, den Ministerien, dem Louvre, Toulerien, Justizpalast, Notre Dame, Invalidendom, Mont Martre, sonstige

Kirchen, Paläste, Opernhaus, Triumphpforte, Obelisken und riesigen Plätzen, dem wunderbaren Stadtbild an der Seine usw., kann man kaum beschreiben. Es ist, ohne Übertreibung, die schönste Stadt, die ich bis heute gesehen habe.

Wir kamen bei dieser Gelegenheit auch durch Compiegne. Es ist eine schöne Stadt mit wunder­baren alten Kirchen und einem schönen Rathaus. Vorher ein großer Platz mit der Jungfrau von Orleans. Diese besonderen Bauwerke sind noch recht restlos ganz, aber o wehe, was da drum herum liegt. Die Verwüstung ist schrecklich. Und allerorten stehen vor Geschäften Schlangen von 100 und 150 Menschen.

Unsere Route war: von hier über Cambrai, St. Quentin, Compiegne, Paris. Übrigens noch eins. Wir wollten die historische Städte im Wald von Compiegne sehen; den Wagen

wo einmal den Deutschen und jetzt den Franzosen die Friedensbedingungen diktiert wurden. Aber, wie staun­ten wir, als wir im Wald auf einen vollkommen leeren Platz stießen, auf dem nur noch in einer Ecke das Denkmal des Marschall Foch steht. Alles andere, Wagen, Halle, Geleise, Gedenksteine und Inschriften sind restlos entfernt worden und stehen jetzt wohl zum Teil in Berlin. –

Aber Paris möchte ich mal am Arm meines geliebten Frauchens nach Herzenslust durchschnöbern. Du würdest bestimmt von der Schönheit der Stadt begeistert sein.

Die Bestimmungen, unter denen Paris besichtigt werden darf, sind sehr streng. Du darfst Man darf nicht rauchen, man darf im Auto keine Mütze abnehmen, den Kragen nicht öffnen, das Koppel nicht abnehmen, sich nicht von der Gruppe oder dem Auto entfernen, kein Lokal betre­ten, nicht, aber auch die geringste Kleinigkeit kaufen. Ehe man Paris betritt, muß man gegessen haben und erst, wenn man Paris verlassen hat, darf man seine Abendmahlzeit einnehmen. Aber schon nur, daß man so viel Schönes sehen konnte, ist etwas wert.

Und nun wird es Zeit, daß ich mich in die Falle lege. Denn ich bin rechtschaffen müde. Ich grüße dich ganz herzlich und küsse Dich so oft und so fest und so zart, wie es meiner lieben Elsbeth am schönsten gefällt. Ich nehme Dich ganz fest in meine Arme, daß ich Dein Herz spüren kann und höre, wie es für mich schlägt. Mein liebe, liebe Elsbeth, ich bin immer Dein ganz getreuer Hannes

Ich habe nochmal 1 Pfund „Ungebrannten“ erwischt, der mit gleicher Post abgeht. Sag’ aber keinem was, sonst kommen wieder manche andern mit Anliegen.