Johannes Ließem an seine Tochter Dorothea, 4. Oktober 1941

4. Oktober 1941

Mein liebes Dorotheechen!

Denk’ mal, gestern abend hat Vati, gestern abend als es Brot und Würstchen und Butterlein gab, auch eine Tafel Schokolädchen und Bonbönchen bekommen. Und da hat der Vati gedacht, das mag doch das liebe Dorotheechen so gern. Und flugs schickt er Dir ein kleines süßes Päckchen.

Aber weißt Du, die Mutti mag ja auch so gern Schokolädchen. Wenn Dorotheechen ißt, muß sie der lieben, guten Mutti auch immer Schokolädchen geben, denn Vati hat nur ein Täfelchen bekommen. Aber das tut ja mein Dorotheechen gern; denn sie hat ja den die liebe Mutti und den Vati sooooo lieb und der Vati und die Mutti das Dorotheechen auch.

Die Mutti hat dem Vati geschrieben, daß es Dorotheechen an der Ostsee, dem groooßen Wasser so gut gefallen hat. Und Dorotheechen ist sogar in das Wasser hineingegangen und war gar nicht bange. Darüber hat sich Vati sehr gefreut. Auch ganz braun ist Dorotheechen geworden.

So gern möchte Vati Dorotheechen noch einmal sehen, aber das geht nicht; denn Vati ist ja

so schrecklich weit. Viele Tage müßte er mit Autos und dem Zug fahren, ehe er da wäre. Und Vati muß doch helfen, daß die Russen nicht nach dort kommen und das kleine Dorotheechen stehlen. Aber wenn wir damit fertig sind, dann kommt Vati vielleicht für immer zu Dir und der lieben Mutti. Dann gehen wir zusammen spazieren in den Wald und auf die Wiese – Blümchen pflücken und Schmetterlinge sehen. Und wenn wir im Wald fein still sind, sehen wir auch die schönen braunen Rehlein und Häschen und Vögel.

Und dann gehen wir zu Oma und Opa, zu allen beiden. Da trinken wir Kaffee und essen Kuchen. Und für Sonntag backt die liebe Mutti auch einen feinen Kuchen. Das wird schön.

Ja, wenn der Vati mal wieder zu Hause ist, das wird schön.

Abends kommt das Dorotheechen dann auch schon mal Vati von der Arbeit abholen.

Das Dorotheechen wird nun jetzt immer größer und der Vati kann das gar nicht sehen das ist schade. Aber, aber, ich glaube, das große Mädchen lutscht noch manches Mal am Daumen. Das muß sich aber mein Mädchen abgewöhnen.

Dann muß mein Mädchen auch immer lieb und

artig zu der lieben Mutti sein, nicht ungehorsam oder gar eigensinnig werden. Dann würde der Vati ganz, ganz traurig sein hier in diesem, großen, weiten, einsamen Land.

Und nun sage ich dem lieben Dorotheechen, daß ich es sooo schrecklich liebhabe. Ich halte es lieb und gebe ihm ein feines Küßchen. Sag’ auch der lieben, guten Mutti, daß ich sie so von Herzen gern und lieb habe, Euch alle beide und gib auch der Mutti ein Küßchen und sag’ es käme von mir.

Dein Vati.