Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 2. Oktober 1940
2. Oktober 1940
Meine liebe Elsbeth!
Ich stehe noch ganz unter dem Eindruck unseres vorgestrigen Abends. Die drei Tage und besonders der letzte Abend waren zu schön, sodaß man sie fast als Traum betrachten könnte, wenn ich nicht das Gegenteil so bestimmt wüßte.
Wie Du weißt, bin ich in Godesberg um 23,07 Uhr vorgestern abgefahren. Hier angekommen sind wir gestern um 23,30 Uhr - also glatt über 24 Stunden. In Brüssel hatte ich 3 Stunden Aufenthalt. Wir (einige ebenfalls aus Urlaub Zurückkehrende traf ich unterwegs) sind einmal über den großen Boulevard geschlendert und nachher habe ich mit einem Kameraden in einem netten Lokal etwas Appetitliches (Russisch Ei) gegessen und Bier und Wein getrunken. Das Lokal war auf „Tirol“ ausgeschmückt. Die Wände waren mit Almen, Schneebergen, Senner und -innen bemalt und es spielte eine „echte“ Tiroler Kapelle, die aber sicher noch nicht aus Brüssel hinausgekommen waren. Die Kellnerinnen liefen als Bayrische Dirndl „verkleidet“ umher. Bunte Röcke, weiße Blüschen mit Puffärmel und — geschminkt. Es war paradox.
In Denain zu später Stunde angekommen, überfiel mich Mergen mit den neuesten Berichten.
Der Chef hatte sich den ganzen Tag über einen nach dem andern genehmigt, der Hauptmann war dagewesen und der Adjutant. Beide hatten ebenfalls mitgehalten. Mergen bekam eine Zigarre nach der andern verpaßt, die
von so starkem Tobak waren, daß ihm das Heulen nahegestanden habe.
Außerdem hat sich einer von der Kompanie mit seinem Gewehr erschossen - anscheinend Liebeskummer - verlassene Braut oder umgekehrt.
Außerdem war ein Transport nach Paris unterwegs, der noch nicht zurück war und auf den man mit Schmerzen wartete. Und in dieses ganze Tohuwabohu kam ich, freundlich lächelnd, herein. Ich wurde natürlich bestürmt mit den Neuigkeiten und Fragen über Wie und Wann usw. Ich habe ihnen aber Gute Nacht gesagt, bin zu Bett gegangen und mit den Gedanken bei meinem geliebten Frauchen selig eingeschlafen.
Und jetzt denke ich noch einmal zurück an die herrlichen drei Tage bei Dir und Dorotheechen. Ich tue Dir im Geiste nochmal alles Gute, Liebe und Schöne an, wie es in meinen Kräften steht. Ich meine, jeder Urlaub wird immer schöner und ich meine auch, daß Du mir immer liebenswerter wirst. Immer mehr Kleinigkeiten und Schlacken fallen von uns ab und es schält sich aus uns ein immer kräftigerer Kern.
Ich küsse Dich noch einmal, wie vorgestern, ganz fest auf Deinen lieben, lieben und schönen Mund und halte Dich so recht von Herzen lieb.
Ich bin immer Dein getreuer
Hannes