Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 30. Juni 1943
2. Mai 1943
Meine liebe Elsbeth!
Nun sitze ich wieder eine volle Woche als O.v.D. in meiner „schönen Stube“ fest. Gestern, am
1. Mai und heute, Sonntag, komme ich also auch nicht raus. Ich habe mir deshalb gestern einen Maler auf Stube geholt und ihm 4 Stunden „gesessen.“ Er ist ein intelligenter Bursche, im Zivilberuf Ingenieur, im Kloster bei Wien erzogen, Universität besucht, 24 Jahre alt, kennt England, Frankreich, Spanien, Ungarn, Griechenland (aber nicht nur vom Krieg her). Sein Vater war Legitationsrat [er meint Legationsrat] bei der Gesandtschaft in Leningrad. Durch besondere Vorkommnisse im Kloster ist er s. Zt. ausgetreten und sogar aus der Kirche ausgetreten. Er ist aber in der Kunst, besonders in der kirchlichen Kunst derart bewandert, daß es eine Freude ist, mit ihm einen Nachmittag zu verplaudern. Selbst hat er auch zu Hause eine Sammlung von Original-Holzschnitten, Stichen und Blättern einiger bekannter Meister (Italiener, Niederländer, sogar einige Dürer-Schnitte). Intelligent ist er, aber kein Soldat. Bis jetzt hat er es auch noch nicht zum Gefreiten gebracht.
Wenn, wie Kameraden sagen, ich auf dem Bild im ersten Augenblick nicht zu erkennen bin, finde ich doch, daß ich der Ausdruck des Gesichtes treffend ist. Oder was sagst Du? Sei etwas vorsichtig mit dem Bildchen, es ist noch nicht fixiert.
Liebe Elsbeth! eine Frage! . . . . . Würdest Du, wenn wir noch länger in Berlin oder Deutschland bleiben sollten, im Sommer mich noch einmal besuchen? . . . . Nicht lachen, aber
so unwahrscheinlich ist es nicht!!! Wir könnten uns dann ja das „letzte Mal“ verabschieden.
Heute ist ein so wunderschöner Tag, daß es einen so recht herauslockt. Am Kanal liegen schon Männlein und Weiblein in Badeanzügen und sonnen sich. Nebenan im Russenlager singt man getragene und seltsame, melancholische Weisen. Blauer Himmel, Sonnenschein, weiße Wolken, blühende Obstbäume und blühender Flieder stimmen einen so frühlingsmäßig. Ein Sonnenstrahl fällt gerade auf das Bild von Dir und Dorotheechen. Als Tomschik kam, um zu malen, hatte ich eben wieder 10 Knoten im Haar. Ich machte sie draus und wollte mich kämmen; da sagte er: „Nein, Herr Feldwebel, bitte nicht kämmen. Und so ist mein Haar auf dem Bild so zerrauft.
Nun warte ich auf Deine erste Post. Ich herze und küsse Dich ganz innig und bin immer
Dein Hannes