Johannes Ließem an seine Tochter Dorothea, zum 6. Februar 1942
Mein liebes, süßes Dorotheechen!
Viel Glück zu Deinem Namenstag. Nun hat Vati aber gar nichts, das er dem lieben Dorotheechen schicken kann. Noch nicht einmal ein Täfelchen Schokolade. Das letzte hat Vati, als er argen Hunger hatte selbst aufgegessen. Aber, wenn er nochmal etwas kriegt, wird er an sein liebes Dorotheechen denken. Und Du hast es ja bei der lieben Mutti so gut. Hier haben es die armen Kinderchen nicht so gut. Zum Beispiel kommt morgens immer ein kleines Kind von 3 Jahren, weißt Du so ganz klein und mager, in einem armseligen Mäntelchen, keine Strümpfe in den kleinen, zerrissenen Stiefelchen, und bringt auf seinen Ärmchen etwas Holz für unseren Ofen. Dann streckt es sein Händchen aus und bettelt: clebjer [?], das heißt: Brot.
Früher haben wir ihm schon mal etwas gegeben, aber jetzt kann Vati das auch nicht mehr, denn Vati muß ja selbst auch essen und sonst kommen immer mehr Kinderchen. Aber, mein liebes Dorotheechen sieht, wie gut es es hat bei der lieben Mutti. Es hat ein feines, sauberes Kleidchen, ein Mützchen und ein feines Mäntelchen. Dabei ist es bei Euch noch nicht einmal so kalt.
Freut sich denn mein Dorotheechen, wenn der Vati nochmal kommt? Dann werden wir morgens im Bettchen nochmal schnell zusammen
kuscheln. Wäre das nicht schön? Aber, leider kann Vati noch nicht kommen. Aber, wenn er kommen wird, dann wird’s schön werden. Dann spielt er mit Dorotheechen, fotografiert, beißt Dorotheechen ins Öhrchen, gibt ihm Küßchen, spielt mit den schönen Spielsachen. Dann gehen Mutti, Vati und Dorotheechen spazieren, zur Oma und Opa, und wir alle freuen uns. Du mußt nur immer schön brav bleiben und der Mutti Freude machen.
Und nun noch schnell ein ganz feines Küßchen.
Dein Vati