Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 9. Juli 1943
9. Juli 1943
Meine liebe, liebe Elsbeth!
Gestern war wieder ein schöner Tag für mich. Ich war noch einmal mit Bloos in Neapel.
Das erstemal hatten wir uns ja Pompeji angesehen und gestern waren wir auf dem Vesuv. Das erstemal am „Herzen der ital. Kultur“, gestern nun am „Herzen des Erdballs“.
Neapel! Ein bunteres Menschengewimmel in großen Straßen, kleinen und kleinsten Gassen und Gäßchen kannst Du Dir nicht vorstellen. Dafür ist ja N. bekannt. Reich und arm, sauber und schmutzig, einfach und bunt, ganz und zerrissen ergibt das innere Bild. Die herrliche Lage, die Luft, das habe ich Dir ja schon mal beschrieben. In verschiedenen Gassen und Gäßchen war eine Art Markt. Es war nicht zum Durchkommen. Auf der Straße sitzen die Händler und verkaufen. Was? Alles! Kaputte Luftpumpen, zerrissene Schuhe, rostige Schrauben, Obst u. Melonen, alte Kleider und halbe Füllfederhalter, Uhren u. alte Schlüssel . . na, alles, was Du Dir nur denken kannst. Männer in großen Strohhüten und anstatt Leibriemen bunte Tücher um die Hüfte, Zigarette im Mund, alte Frauen, Freudenmädchen, kleine Kinder, die einen auf Schritt und Tritt ansprechen: Wollen Sie Stoff, wollen Sie Anzug, prima, prima, wollen Sie schönes Mädchen, haben Sie Silbergeld deutsch, oder Papiergeld? usw. usw. Ohne eine solche Frage kommt man keine 3 Meter weit. Man kann auch in die Wohnungen sehen. Ein Raum. In einer Ecke steht ein alter Herd, daneben ein Tisch, ein paar Stühle, an einer Wand eine Kommode mit vielen Heiligenbildern teils unter, teils ohne Glasglocken, dabei ein rotes Öllämpchen. An einer Wand stehen die Nachtlager. Dazwischen herum die Leute und stets eine große Kinderschar. Ist es ein Handwerker, dient der Raum auch gleichzeitig als Werkstatt. An diesem Gewühl und seltsam fremden und bunten Gewimmel kann man sich sattsehen. Wir müßten einmal zusammen dort durchspazieren können. Der richtige Neapolitaner ist klein und schlank, hat schwarzes, meist gekräuseltes Haar, dunkelbraune Gesichtsfarbe und ganz dunkle Augen.
Am Tag vorher hatte ich mit mir „gerungen“, ob ich überhaupt in Anbetracht meiner finanziellen Verhältnisse die Fahrt unternehmen könnte. Aber, wann bietet sich einem nochmal die Gelegenheit im Leben? Und auf ein paar Lire mehr oder weniger Schulden kommt es bald auch nicht mehr an. Und außerdem lockte mich der Vesuv. Von N. braucht man bis zum Krater, wenn man immer guten Anschluß hat, etwa 2 Stunden. Erst
eine Viertelstunde mit der Vorortbahn bis an den Fuß des Berges, dann mit der Bergbahn, dann Zahnradbahn, dann Drahtseilbahn. Dann ist man am Fuß der Krater-Kuppe. Dann geht’s noch eine halbe Stunde zu Fuß bis zum Trichterrand. Schon die Fahrt mit der Bergbahn ist ein Erlebnis. Erst durch Obstgärten mit bekannten und seltenen grünen, roten, braunen und goldgelben Früchten, vorbei an Kaktushecken, Palmen, Zypressen usw.; vorbei an Häuserruinen und alten, typischen südital. Häusern, Weingärten, geht der Weg, bis man an die großen, erkalteten Lavaströme kommt.
Dort wird der Blick in die Ebene frei. Ein schöneres Bild kannst Du Dir nicht vorstellen. Rückwärts das schönste Stadtbild, was ich kenne, mit den beiden auf Hügeln gelegenen Kastellen, südlich die alte Stadt Pompeji, dazwischen die Bucht, dahinter das Meer, links die Insel Capri, rechts die Insel Ischia. Landwärts erstreckt sich der Apenninenzug, vor uns das bunte Lavabild und darüber die nun immer größer scheinende Rauchfahne des Vesuvs.
Endlich kam nun der Weg zu Fuß bis zum Kraterrand. Der Wind stand ungünstig. Es ist nur ein Aufstieg. Bis zum alten Krater ging es gut. Dort wanderten wir über Lavamassen von bizarren Formen. Welche waren Jahre alt, welche Monate, Wochen und auch nur Tage. Aber von dort aus mußten wir etwa 100 m steil aufwärts über Lavageröll steigen und zwar gerade da, wo der Wind die Schwefeldämpfe und die kleinen Auswürfe, die alle 3 Minuten erfolgen, hinweht. Man bekam fast keine Luft und der Schwefelgeruch steigt einem scharf und bedrückend in die Lunge. Außerdem muß man alle 3 Minuten aufpassen, daß man keine der glühenden Brocken, die hoch im Bogen durch die Luft geflogen kommen, auf den Schädel bekommt. Dann war aber auch endlich das geschafft. Ich stand nun auf dem dem Wind zugewandten Trichterrand und schaute hinunter. Das Taschentuch hatte ich mir vors Gesicht gepreßt, wegen der großen Hitze. Doch dann bekam ich doch auf einmal einen gelinden Schrecken, als er an zu speien fing. Erst hörte man ein abgründiges Fauchen, als ob ein unheimlicher Riese niesen müsse und dann kam auch schon der Feuerstrahl an mir vorbei und warf Fetzen und rotglühende Brocken, Schlacke, Asche u. Bims an mir vorbei. Der Führer nahm einen Brocken zwischen zwei kalten Schlacken auf und ließ einige der Mitbesichtiger ihre Zigaretten daran anzünden.
Ein alter Italiener sammelte 10 u. 20 Cent-Stücke und drückte sie in glühende, kleine Lavastückchen. Als wir nachher heruntergingen, waren sie so weit erkaltet, daß man sie gegen ein Trinkgeld von 3 Lire mitnehmen konnte. Die Stücke kann man als Aschenbecher verwenden. Besonderes ist
es nicht, lediglich der Reiz des „Dagewesenen“ und des Originellen.
Dann gings wieder zur Zahnradbahnstation und mit dieser hinab zu dem weltbekannten, eleganten Vesuvhotel. Wir hatten hier eine Stunde Aufenthalt und aßen deshalb dort zu Mittag.
Der Schaffner in der Bergbahn war, wie alle Italiener, ein tüchtiger Geschäftsmann. Als wir bei der Auffahrt einstiegen, begrüßte er die Fahrgäste, meist deutsche Offz. u. Soldaten freundlich mit ein paar deutschen Brocken. Während der Fahrt machte er früh darauf aufmerksam, wann eine Stelle zum Knipsen kam. Die Freundlichkeit wuchs sogar so stark, daß er auf einmal anfing, an die Fahrgäste Aprikosen (jeder eine) zu verteilen. Darnach zog er auf einmal Glasröhrchen heraus, die mit verschiedenen Arten Vesuvasche vom letzten Ausbruch 9. – 14. April 1906, gefüllt waren. Na, ja, nur 3 Lire (0,40 RM.) Das war die Freundlichkeit wert. Wieder 10 Minuten wurde er schon teurer, da verkaufte er Schokolade zu 13 oder 16 Lire die Tafel. Da hüllten sich aber schon die Meisten, darunter auch ich, in eisiges Schweigen. Aber so ist, ich glaube Handeln und Geschäfte machen, liegt den Leuten hier im Blut. Will sich einer eine neue Uhr kaufen, geht er in ein Uhrengeschäft. Dort sucht er sich eine Uhr aus und fragt: „Quanta kosta?“ Preis 800 Lire. Daß er das bekommt, ist ausgeschlossen. Dann fangen die Lanzer an, zu handeln. Bloos hat eine 800-Lire-Uhr (neu im Geschäft) gekauft nach viertelstündigem Handeln zu 360 Lire, ein anderer eine 680-Lire-Uhr zu 280 Lire. Sie sehen zackig aus, weißt Du, so moderne, runde Form — Armbanduhr. Machst Du sie aber mal auf, laufen sie entweder nur auf 2 oder auf überhaupt keinem Stein. Folglich — Preis noch zu hoch. (Übrigens, die Uhren, die bisher so gekauft wurden, sind noch keine Woche gegangen, dann wars aus. Entweder sie gehen überhaupt nicht mehr, oder aber, sie gehen zumindest an einem Tag 3 Stunden vor, am nächsten bleiben sie ganz stehen, am dritten Tag gehen sie 4 Stunden nach, sodaß sich kein Mensch danach richten kann.
Nun bin ich schon 14 Tage ohne Post. In welcher Spannung ich bin, kannst Du Dir vorstellen. Aber, es kann sein, daß heute die erste Post, die irrtümlich irgendwo anders hingeleitet wurde, ankommt. Aaaaber … „es kann sein“! heißt es. Ich habe bald die Hoffnung darauf aufgegeben.
Bekommst Du wenigstens meine Post. Ich habe die letzten Wochen alle 2 Tage, zweimal allerdings 3 Tage, geschrieben. Und meist waren es immer lange Briefe. Einmal habe ich ein Foto Dir, einmal ein Foto Dorotheechen und einmal 7 Skizzen Dir zukommen lassen.
So, liebe Elsbeth, ich hoffe, daß es Dir den Verhältnissen entsprechend gut geht und herze und küsse Dich fest und innig. Ich bin immer
Dein Hannes.
2 Bilder vom Vesuv lege ich bei.