Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 19. Juli 1943

19. Juli 1943

Meine liebe, liebe Elsbeth.

Recht herzlichen Dank für Deinen lieben langen Brief. Leider ist auch wieder viel Bitteres darin. In Köln und im Ruhrgebiet herrschen nach Deinem Schreiben, und auch nach Aussagen von Soldaten, die daher kommen, schlimme Zustände. M.E. wird der Krieg in diesem Jahr doch noch entschieden, denn sonst finden wir ja, wenn wir mal wieder zurückkehren, nur noch Trümmer an. (Das soll natürlich nicht der Grund für die allgemeinen Mutmaßungen sein.) Es ist schlimm, was die armen Menschen zu leiden haben. Daß Du nicht von Godesberg weg willst, ist ja schön. Je nach dem es aber schlimmer auch in Godesberg werden sollte, würdest Du es doch sicher am besten tun. Möbel und Vasen und auch Bücher und Geschirr können wir uns doch wieder einmal beschaffen und kaufen. – Aber hätte ich „alles Gold der Erde“, einen solchen Ersatz für Dich könnte ich nimmer damit beschaffen. Also, wenn es schlimm wird, fahre auch weg, meinetwegen zu Hubert und Else, die tun das doch sicher. Gefreut hat mich, daß es unserem kleinen Stümpchen wieder besser geht.

Ich muß Dir noch von gestern schreiben. Ich war mit Feldw. Schmutte (Spies) und dem Chef (Oblt. Lambrecht) zur Erkundung mit dem Wagen in den Abruzzen. Ich habe gestern eigentlich so richtig erst verstanden, warum es alle großen Maler nach Italien getrieben hat. Diese Farben, diese Landschaft ist mit Worten nicht zu beschreiben. Noch ziemlich von der Zivilisation unberührt. Durch die Täler geht ein Fahrweg, der wohl kaum für Kraftfahrzeuge, sondern für Maulesel- und Eselskarren gedacht ist. Über die Berge führen steil in Serpentinen Saumpfade für die Maultiere. Die Berge selbst sind steil und die südliche Sonne brennt unbarmherzig glühend auf die Felspfade. Als Baumwuchs findet man nur einzelne jahr-hunderte alte, knorrige Oliven und ebensolche Kakteen. Und sonst sind die Berge nackter Fels. Oliven und Kakteen geben aber fast keinen Schatten. Auf vielen Berggipfeln (in der 1000 Meter-Zone) sieht

man alte Raubritterburgen in eigenartiger Form. Meist ein wuchtiger, viereckiger Würfel, kollossal breit und wuchtig, ohne Fenster nach außen, schaut unheimlich trutzig und finster über die nackten Felsklippen ins Land.

Die Abruzzer waren ja früher ein Räubervolk. Man kann das ganz gut an der Landschaft, auch an den trutzigen, dunkelbraunen Gesichtern der Bewohner sehen. In einem Ort waren wir, der auf einem Berggipfeln gebaut war. Er sah herrlich aus, aber auch hier wird man den Gedanken an das alte Räubertum nicht los. Der Ort, sehr alt, ist auf einem spitzen Gipfel gebaut. Oben drauf hatten natürlich nur wenige Häuser Platz. So gehen die Gassen und Gäßchen steil bergauf, oft in Stufen aus Fels. Steht man mitten in der Gasse und streckt die Arme aus, so kann man rechts und links die Häuser berühren. Und durch diese Gassen treiben Treiber ihre beladenen Esel, spielen Kinder ohne Zahl auf der Erde, sitzen Männer auf der Erde und halten Obst feil, handeln dabei mit lebhaften Gebärden, entlausen Mütter ihre Kinder, stillen Mütter ihre Kinder, spielt sich das der größte Teil des Familienlebens ab. Daneben auf einem zweiten Gipfel steht wieder so eine Räuberburg.

Dann gings auf steilem, halsbrecherischen Weg ins Tal. Brücke gibt‘s nicht, aber eine uralte Fähre liegt da und setzt uns über. Ein altes Seil ist über den etwa 60 m breiten Fluß gespannt. Vom langen, langen Gebrauch ist es vollkommen glatt geworden. Ein Fährmann, wie er dazu gehört, zieht die Fähre an dem Seil ans andere Ufer.

Das war so mein gestriger Tag.

Liebe, liebe Elsbeth, ich grüße Dich und Dorotheechen ganz, ganz herzlich, wünsche, daß es Dorotheechen bald wieder ganz gut geht und küsse Dich auf Deinen lieben, lieben Mund. Ich bin immer Dein
Hannes