Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 23. August 1943
23. August 1943
Meine liebe, liebe Elsbeth!
Nach ungefähr 2 ½ Wochen wieder dieser erste Brief. Von Dir fehlt mir in dieser Zeit auch jede Nachricht. Weshalb, siehst Du jetzt.
Am 7. 8. abends erhielt ich den Befehl, mit meinem Zug im Morgengrauen des 8. 8. nach dem Süden abzurücken, um mit meinen Sturmbooten die Letzten von Sizilien herüberzuholen. Wie froh war ich, daß gerade die letzten Boote und die Aufbauten auf den LKW zum Transport fertig geworden waren. In 2 ½ Tages-Gewaltfahrten erreichte ich mit den Booten und den Leuten auf 5 Lastwagen und 2 Anhängern den Einsatzplatz. Aber, Elsbeth, wie herrlich ist dieses Land mit seinen Bergen und Schluchten. Es ist unbeschreiblich schön. Hier hatte ich schon Vieles und Schönes an Landschaften gesehen, aber die Fahrt quer durch die ganzen südlichen Apenninen übertraf alles. Schroffe Felsen und Schluchten, die durch kühn angelegte Straßen und Brücken bezwungen sind, wechseln ab mit lieblichen Tälern, aus der Höhe den herrlichen Anblick aufs Meer freigebend! Dörfer und Städte hoch auf Bergspitzen gelegen, tragen als Krone teils uralte Kirchen aus der byzanthinischen Epoche. Häuser, teils in demselben Stil würden das Auge jedes Malers entzücken. Menschen
in seltsamen Trachten und südländischem Aussehen machen die Illusion des Mittelalters vollkommen. Trauben von seltener Größe, wie Pflaumen, sind wie purer Zucker und wachsen überall in den Tälern und Bergen. Ab und zu halten wir und pflücken uns einen Stahlhelm voll. Auch essen wir die süßen Früchte des Kaktus. Bei den ersten hatte ich einen halben Tag zu tun mir die haarfeinen kleinen Stacheln aus Lippen, Zunge und Händen zu entfernen. Pfirsische gabs auch. Für die Fahrer war die Fahrt sehr anstrengend. Die Straße führt ganz selten gerade und eben. Sie besteht sonst nur aus scharfen Kurven und unsere beiden Sturmbootanhänger schlugen oft an. An einer Seite hat man steile Felswand, an der anderen Seite tiefen, steilen Abgrund, in dem ein ausgetrocknetes Bachbett (Torrente) oder ein wirklicher Bach oder Fluß (Fiume) ist. Die meisten Schluchten sind trocken und führen nur in der Regenzeit reißendes Wasser. Richtung war Neapel, Pompeji, Salerno, Cosenza (Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder), Catona (10 km nördl. Reggio an der Straße von Messina). Unterwegs wurden wir am zweiten Tag oft durch Fliegerangriffe aufgehalten. Ein Wagen stürzte dabei den Abhang herunter und verbrannte. Die Leute hatten vor dem M.G.-Feuer Deckung in dem Chausseegraben gefunden und blieben unver-
letzt. Zerstörte Straßen zwangen zu riesigen Umwegen. Aber diese Umwege führten uns, wenn auch auf schlechteren Straßen, hoch in die unberührteren Teile des Gebirges mit unberührteren Ortschaften in der geschilderten Art.
Ich habe mir dabei fest vorgenommen, mit Dir und Dorotheechen die Fahrt einmal im Volkswagen zu machen, wenn der Krieg günstig zu Ende geführt ist.
Plötzlich tauchte vor uns aus dem Meer die Insel Sizilien auf. In der Ferne sah man Messina im Bombenhagel der feindl. Luftwaffe. Erd- und Wasserfontänen gingen hoch. Hier und da loderten große Brände. Gegenüber von Messina luden wir unsere Boote ab und brachten sie zu Wasser. Oft mußten wir vor den Bomben Schutz suchen.
Anderen Tags setzten wir über das Meer nach Messina. Diese und auch sämtliche folgenden Fahrten waren immer so, daß sie die Fahrer aufs Äußerste beanspruchten. Luftlinie waren es 8 km, die Fahrt selbst jedoch 14 km, weil wir in einem Bogen verschiedene große Strudel und Gegenströmungen umfahren mußten. Plötzliche Stürme traten auf, die das Boot warfen, als seien es Korken. 2 – 3 m hohe Wellen schlugen in die Boote und 4 Boote gingen eines Tages unter, als wir gerade Grenadiere übersetzten. In den mitgeführten kleinen Floßsäcken wurden jedoch alle Menschen gerettet, wenn auch nur das nackte Leben. Ein Fahrer holte von
seinen Bootsinsassen allein 4 aus dem Wasser. War man dann an Land, mußten die Motoren wieder nachgesehen werden. Wasser im Vergaser, in den Zylindern, Salzverkrustungen in den leben betriebswichtigsten Teilen. Vor allen Dingen setzte sich Salz in den Kühlkanälen ab und verstopfte die Kühlung. Die Boote sind ja nur Süßwassermotore und für ganz kurze Fahrten berechnet und niemals für Fahrten auf See von 14 km, dazu unaufhörlich Bombenangriffe
und zum Schluß Artillerie-Feuer. Die Bomben, die ins Meer gingen, hatten unter Menschen keine Wirkung, aber tote Fische, große und kleine, schwammen haufenweise an der Oberfläche und wurden an den Strand gespült. In einer Ecke lagen Hunderte von toten Goldfischen am Strand. Unser Liegeplatz wurde verschiedenemale getroffen, zufällig waren aber dann die Boote ausgelaufen. Die Fahrer, deren Liegeplatz zerstört war, sagten bei ihrer Rückkehr „Schwein gehabt“. Ob Flieger hoch, ob im Tiefflug kamen, bei der Fahrt ließ sich kein Fahrer aus der Ruhe bringen. Bei all dem vollzog sich das Herauslösen der Truppen aus Sizilien aber in einer mustergültigen Ordnung. Kein Mensch, der nicht vorher in Gefangenschaft geraten war, oder
gefallen, ist zurückgeblieben. Kein fahrbereites Fahrzeug. Diese wurden noch vorher mit Fähren herübergeschafft. Verschiedene hohe Offiziere habe ich in meinem „Boot 1“ herübergebracht, auch den Ritterkreuzträger Hptm. Roßmann, Major Jacobi usw. Geschafft haben wir noch und noch. Keinen trockenen Faden am Leib, Tag u. Nacht manchmal geschafft. Manchmal abends um 10 das Erste am Tag gegessen. Nachts fielen die Bomben wie ein Regen. Mit Ausnahme von Schrammen bei zweien meiner Leute hat aber alles geklappt.
Und dann kam die Nacht vom 16. zum 17. 8. Die See war ruhig. Die letzten Fähren waren schon im Schutz der Dunkelheit weggefahren. Die Allerletzten sollten von uns gegen 6 Uhr übergesetzt werden. Es war ein Häuflein Offz. u. Mannschaften. Um 5 vor 6 Uhr morgens ging es los zur letzten Fahrt. Hptm. Roßmann sprach am Liegeplatz noch einige Worte. Ein „Sieg Heil“ und dann Einrücken. Ein Offz. zündete einen hölzernen Schuppen an, der weit übers Meer leuchtete. Dann mußte alles in die Boote. (Oblt. Lambrecht war am Tag vorher gekommen.) Die Motore wurden angeworfen und zitterten leise auf Standgas. Dann gings los. Mit
scharfem Ruck hob sich der vordere Teil mit dem Haifisch aus dem Wasser, der letzte Start, die Boote schossen in Kiellinie davon. Ich überzeugte mich, daß keins liegengeblieben und alles in Fahrt war, dann stieg ich als letzter deutscher Soldat in Sizilien ins Boot, warf auch meine wackere „1“, die mich die ganze Zeit über nicht im Stich gelassen hatte, an, und – auch mein „Haifisch“ hob mit scharfem Ruck die Schnauze und mit Volldampf gings den Anderen nach. In Rekordzeit erreichten wir das Festland. Die Übergesetzten bestiegen dort Fahrzeuge und fuhren ab. Für mich begann nun das härteste Stück der ganzen Zeit. Artillerie hatte sich aufs Ufer eingeschossen. Tiefflieger machten uns zu schaffen. Mancher meinte, alles stehen und liegen lassen und weg. Aber, rücksichtslos, trotz „Bomben und Granaten“ wurde alles, aber auch alles verladen, was noch da war. Ein Treffer in unsere Floßsäcke trieb einen Teil davon weg, die nicht mehr geholt werden konnten. Leid tut tuen mir nur die 4 abgesoffenen Motore, die nun auf dem Meeresgrund Fische bange machen. (Den Ätna habe ich nun auch gesehen).
Meine Einheit war inzwischen auch heruntergekommen. Ich erreichte sie in einem halben Tages-mot.-Marsch. Am anderen Tag gings mit der ganzen Kolonne los und seitdem sind wir schon auf Marsch. Ich bin gestern als Kurier vorgeschickt worden und habe jetzt die erste freie Minute oder Stunden. Papier habe ich mir von einem Mann geben lassen, denn mein Gepäck liegt auf einem LKW, der etwa 400 km weit zurück liegt und nicht weiterkann. Ich selbst bin im Beiwagenkrad hier. Morgen wird wohl meine Einheit auch in diesen Raum kommen.
Liebe Elsbeth, ich könnte noch Seiten füllen von Gesehenem und Erlebtem, aber langsam wird es dunkel. (D. h.: hier wird es sehr schnell dunkel).
Nur noch Einiges, was ich beim Übersetzen von der alten ersten Kompanie erfahren habe. Der Kompaniechef hat bei einem Angriff den „Fuß gebrochen“ (9 mal verwundet und zum 10. Mal: Fuß gebrochen. Lt. Kampmann hat einen Beinschuß. Uffz. Schrader (vom 2. Zug jetzt alle, Beinschuß, Uffz. Griesel gefallen, Uffz. Korff Lungenschuß, Uffz. Back, jetzt Feldwebel u. Zug-
führer (der mit dem EK 1) unverwundet. Mein damaliger Nachfolger als stellv. Zugf. Feldw. Bartlewski, gefallen. Oberfeldw. Busch vom 3. Zug, Du kennst ihn ja, ist vermißt, vermutlich in Gefangenschaft. Lt. Augenstein, Nachfolger von Hptm. Wimmer (Komp.-Führer) habe ich selbst übergesetzt. Er trug den rechten Arm in der Binde (Splitter im rechten Oberarm, aber nicht gefährlich). Er hat die letzten Operationen noch mit der Verwundung geleitet.
Und nun, liebe, liebe, gute Elsbeth, küsse ich Dich ganz innig auf Deinen lieben, guten Mund. Ich drücke Dich fest an mich und will Dich am liebsten garnicht mehr loslassen. Ich küsse Dich andächtig auf Deine Augen und auf Deine Stirn und ganz innig auf Deine liebe, liebe Brust.
Ich bin immer
Dein Hannes.