Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 19. November 1943
19. November 1943
Meine liebe, liebe Elsbeth!
Heute, Dein Namensfest. Gedacht habe ich an Dich und gedacht habe ich an frühere, schön verlebte 19. November! Und heute! Gerade komme ich von der Einsatzstelle zurück. Leider sind wieder mal welche draufgegangen. Im Ganzen fünf Tote und sieben Schwerverwundete beim Hantieren mit Minen. Hier lag ein Fuß, da eine Hand, da das. Von einem war nur noch das Soldbuch da. Das Schlimme ist, daß es einen innerlich gar nicht mehr so sehr berührt. Deshalb kann ich Dir auch ganz schön schreiben. So roh ist man geworden und in bestimmter Beziehung so weich wie ein Kind. Ein Beispiel: Kennst Du noch Feldwebel Back. Damals, als Du in Velten warst, hast Du ihn als Unteroffizier (mit dem EK I) kennengelernt. Ein Pionier, wie er im Buch steht. Er hat bei den Sperren nördl. Capua damals eine ganze Stadt zerstört mit seinem Zug. Sämtliche Feldzüge hat er auf dem Kreuz, unzählige Stoß- und Spähtrupps. In P. also, der besagten Stadt, Kampmann und ich waren gerade dabei, passierte es, daß beim Sprengen eines Hauses eine Ecke stehen blieb. Oben dran klebte noch ein Zimmer. Aus dem stehengebliebenen Fenster erhob sich ein Gekreische von 3 Italienern, die sich beim Durchsuchen nach Zivilisten dort versteckt hatten. Der Chef: „Sorgen Sie dafür, daß das Geschrei aufhört.“ – „Jawoll, Herr Leutnant!“ Ich sah, wie er eine Handgranate fertigmachte und ins Fenster warf. „Rumms“ machte es. Er meldete: „Geschrei beseitigt!“ und machte ruhig seine Arbeit weiter. Soviel vom „rauhen“ Kerl. Im selben Ort fand er, ebenfalls beim Durchsuchen, ein wunderschönes Hundchen; schneeweiß mit langen Haaren, in einem Körbchen auf 4 Jungen liegen. Die andern gingen vorbei. Aber er: „Ihr könnt doch nicht die armen Tierchen liegen lassen“, nahm das ganze Körbchen auf und trug es in
seinen PKW. Das „Spitzchen“ hängt nun mit abgöttischer Liebe an ihm. Vor acht Tagen wurde es nun überfahren, jaulte ganz entsetzlich. Anscheinend hatte es sich innere Verletzungen zugezogen. Ich sagte ihm, „schieß das arme Tier doch kaputt, dann ist es erlöst“! „Ja“, sagte er, „das kann ich doch nicht, denn die Kleinen trinken doch noch bei ihrer Mutter!“ Und heute ist Spitzchen wieder gesund und Hund und „Herrchen“ freuen sich gegenseitig. Er hat es sogar schon so erzogen, daß es sich nicht mehr den Hintern leckt und beim Gähnen hält es sogar das Pfötchen vor den Mund. Die übriggebliebenen drei Kleinen hat er getauft. Schnaps, Kognak, Wodka. Soviel von Back, meinem speziellen Freund. Wenn er nach dem Krieg heiratet, fahren Du und ich zu seiner Hochzeit.
Gestern war ich mit Kampmann am alten Troßplatz. Etwas sehr Schönes haben wir gesehen. Auf einem Bergkegel eines der wunderbaren, schon oft beschriebenen Bergstädtchen und das Ganze eingerahmt von einem Regenbogen. Einen solchen Regenbogen kennt man aber in Deutschland kaum. Er stand in der schönen Gebirgslandschaft wie gemalt. Ganz scharf, wie mit riesigem Pinsel und satten Farben gemalt stand spannte er seinen Bogen über den Berg. Überhaupt, die Bergkegel mit ihren Dörfern und Städten!!! Obwohl ich dieses nun schon ein halbes Jahr lang sehe, immer und immer wieder muß ich vor jedem Ort wieder staunen. Man steht immer wieder wie vor etwas Niegeschautem, so schön ist es. So würde es Dir bestimmt auch gehen. Ob wohl je etwas aus unserer geplanten Italienfahrt wird? Langsam wird es frisch. Besonders morgens. Man kann schon den Pullover vertragen. Zu Hause lauft Ihr aber sicher schon mit dem Mantel herum.
Unser Speisezettel hat sich um etwas Schönes erweitert. Die Apfelsinen sind reif!!! Und ausgerechnet liegen wir in einer ausgesprochenen Apfelsinengegend. Ein Gebiet, wie von Godesberg bis Köln lang, und von Meckenheim bis zum Rhein breit, nur Apfelsinenbäume. Schade, daß das Zeug nicht alle gepflückt werden kann. Wieviel
Eisenbahnzüge könnten nach Deutschland geschafft werden. Wohl stehen in der rückwärtigen Zone viele LKW, die sich mit Apfelsinen vollstopfen und abbrausen. Vielleicht werden die für Deutschland gepflückt. Aber was sind schon 100 Lastwagen für Deutschland? Von unserem Flurfenster kann man mit der Hand in die Bäume hineinlangen. Auch Paradies- und Granatäpfel sind reif. Es sind ulkige Früchte.
Unser jetziger Kompaniegefechtsstand ist mal schön. So oft haben wir primitiv gelegen, aber diesmal haben wir das Haus eines reichen Mannes erwischt. Seidentapete, schöne Ölgemälde, Eßzimmer mit geschnitzten Eichenmöbeln, ein wunderbares kleines Zimmer mit modernen, geschmackvollen Möbeln, eine moderne, sehr schöne Couch mit Hockern und am Kopfende so ein kleines Möbel angebaut, halb Likörschränkchen, halb Büchergestell, ganz nach unserem Geschmack. Ein netter Bücherschrank, ein kleiner Schreibtisch, ein riesiger Radioapparat, zugleich für Schallplatten. Das vorige Quartier war ja auch nett, in einem Bauernhaus. Hatte sogar den Vorteil, daß wir heizen konnten, denn es war ein großer Kamin dort und es war schön, wenn das Holz darin so richtig prasselte. Meist, auch in unserem jetzigen Haus, ist keine Heizmöglichkeit bis auf den steinernen Küchenherd.
Als wir gestern zurückfuhren, fuhren wir durch die Pontinischen Sümpfe. Weißt Du, das ist der Landstrich, an dem Mussolini jahrelang gearbeit[et] und sie hat trockenlegen und urbar machen lassen. Hier waren aber auch schon Pioniere am Werk. Man kann sagen, „Und Sumpf wurde wieder Sumpf. Für den Pionier eine schöne und dankbare Aufgabe: mittels einiger Schleusen-, Pumpwerk- und Deichsprengungen einen riesigen Landstrich unter Wasser zu setzen. Nur schade für die Arbeit alle, die man sich mit dem Urbarmachen gemacht hat. Die Fahrt hatte etwas Kriegsromantisches an sich. Rechts und links der Via Appia das Sumpfwasser, dahinter das Meer, mit schwarzen Wolken verhangen. Ab und zu blitzte es von den Abschüssen der feindl. Schiffsarie. Dabei muß man scharf auf den dunklen Weg achten, daß man nicht
in einen Bomben- oder Granattrichter hineinrummst.
Im Übrigen ist es hier ruhig. Also keine Sorge, jegliche Sorge ist unnütz und schadet nur Deiner Gesundheit.
Nun, nach meinem Erguß, zu Deinen gestern eingetroffenen Briefen. Ich freue mich, daß die Kiste angekommen ist, habe aber Sorge, daß der Koffer mit den wertvolleren Stücken nicht dabei war. Gerade darin hatte ich die wertvolleren Sachen, die ich Dir schon mit meinem Brief angekündigt hatte, wie Fleisch, Pelzmantel usw., verpackt. Hoffentlich kommt er noch an. Was Du mit den Schuhen machen willst, ist mir gleich. Benutze sie so, wie Du denkst, als Geschenk, als Tauschmittel. Du brauchst mich dieserhalb nie zu fragen. Denn Du weißt doch: was Du tust – und wäre es der größte Unsinn (aber das ist ja nicht der Fall, dafür bist Du ja in dieser Zeit viel zu ……. klug) – ist, wenn es überhaupt meiner Genehmigung bedürfe schon im Voraus für gut befunden. Wenn Du in den Schuhen Größe 37½ hast, werden Dir wahrscheinlich auch die wunderbaren echten weißen Wildlederschuhe zu klein sein. Das täte mir leid. Da könntest Du aber was Schönes bei einem Liebhaber für eintauschen. Na, hoffentlich kommt der Koffer überhaupt an. Ich würde mich sonst schwarz ärgern. Ich schätze, daß doch mindestens 20 – 25 Pfund Fleisch und Wurst drinnen sind, geschweige von den anderen schönen Sachen.
Und nun, nach diesem langen Erguß, zu Deinem Namensfest. Ich hätte Dir ja zum Namenstag extra schreiben sollen, aber in Ermangelung von Zeit verbinde ich es mit meinem jetzigen Brief. Als Namenstagsgeschenk kann in diesem Jahr nur die „Länge“ des Briefes gelten. Aber in Gedanken überhäufe ich Dich mit Geschenken und allem Lieben, was ich nur kann. Ich denke dabei an unsere gemeinsam verlebten Namenstage. Morgens mit Kerzen, den Hümmler aufgeschlagen.
Es ist mir alles so schön in Gedanken, aber — ich bin ehrlich — etwas unwirklich. Das heißt: der Namenstag und Du — das Lebendige — ist mir so nah und so wirklich, wie nur etwas wirklich sein kann. Aber das mit
dem Hümmler …! Ich weiß, das wird wiederkommen, sobald ich wieder in die liebe Umgebung komme. Sei mir nicht böse, aber es ist zu dem Ganzen meiner Umgebung etwas so gewaltig Gegensätzliches darin. Nicht, daß ich Heide würde, aber es paßt so schief in dieses Leben. Habe aber keine Angst, ich komme ja wieder und dann wird aus dem unempfindlichen, robusten Soldaten wieder ein gefühlvollerer Mensch. Wie ist es überhaupt, daß, so Häßliches und Schlimmes man erlebt, die meisten „zarten Gefühle“ in einem stumpf werden, das Gefühl und die Liebe zu Dir und Dorotheechen immer „zarter“ und inniger werden? Ich denke dann, daß mal Irgendeiner gesagt hat, „Der Soldat ist wie ein Kind“. Je rauher man außen wird, je weicher und umsomehr abgeschlossen hält sich unter der rauhen Schale das Gemüt, das Herz.
Und das kann ich sagen. Das Herz ist fast dauernd unterwegs. Es fliegt in Sekunden über die Pontinischen Sümpfe, über den Apennin, durch die schönen Täler, über Städte, über die Ewige Stadt, am Mittelmeer entlang, über Florenz und Pisa, über Oliven- und Apfelsinenhaine, fliegt über die Po-Ebene und scheut sich nicht vor den Alpen, kreist einmal um den Inbegriff der Sehnsucht der Soldaten in Italien, den Brenner, fliegt schneller, um die versäumte Zeit einzuholen, über Bayern, das Allgäu, findet dann, als ersten Heimatgruß, den Rheinstrom, aber dann hält es nichts mehr. Im Augenblick es den Strom gesehen hat ist es auch schon in einer gewissen, kleinen Wohnung und drückt sich ganz innig an eine liebe Frauenbrust und denkt . . . an nichts. Läßt sich willenlos streicheln und küssen und liebhalten. Es sagt nichts, tut nichts, denkt nichts, läßt sich nur immer und immer wieder liebhalten.
So bin ich, liebe Elsbeth, auch heute bei Dir. Du bist ganz allein und nur ich bin bei Dir. Ich habe Dich so sehr lieb und bin immer Dein Hannes. Ich nehme Dich auf meine Arme und trage Dich, küsse Dich ganz innig auf Deinen lieben Mund und Deine schönen Augen. Auf Deine Stirn und auf die schöne, weiche, liebe Brust.
Immer bin ich bei Dir und bleibe
Dein Hannes.