Hannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 21. Mai 1944

21. Mai 1944

Meine liebe, liebe, gute Elsbeth!

Wie mußte ich Dich diese Woche mit Schreiben vernachlässigen. Noch nicht einmal zum Muttertag konnte ich Dir schreiben. Nun ist heute schon Muttertag. Und ich wünsche Dir zu diesem Ehrentag, daß unser Dorothechen Dir und natürlich auch mir recht viele Freude mal machen wird.

Ich selbst habe eine tolle Woche hinter mir. Ein neuer plötzlicher Einsatz: Verminen, Bunker- und Stellungbau, Flußübergang usw. Ein interessanter Einsatz. Die Einweisung dauerte aber nur 2 Stunden, weshalb das Meiste zu erraten ist.

Und nun ging es diese Woche von morgens bis in die Nacht von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle, von Gefechtsstand zu Gefechtsstand, zum Batl., zum Regiment. Dazwischen Planungen und Minenpläne, Verbindungsaufnahmen usw. Nachtruhe durchschnittlich 2 – 4 oder höchstens 5 Stunden. Die Kompanie liegt in Zelten und Erdlöchern. Jeder hat sich mit Schilf, Bambus, Holztischen, Bänken usw. den Zeltplatz so hergerichtet, daß man annehmen könnte, man befände sich in einer Laubenkolonie. Mit Sprüchen und „Toreingängen“ haben sie sich ihre Zeltplätze geschmückt. Der Dienst ist schwer und gefährlich. Gestern hatten wir 4 Ausfälle. 2 Leute je der rechte Fuß abgerissen, einer schwere Beinverletzung und wahrscheinliche Erblindung, der andere ist der leichteste Fall. Er wird auf einem Auge blind werden voraussichtlich. Das ist aber auch alles.

Als wir vergangenen Montag aus unserer alten Stellung abrückten, haben der Doktor und die junge Frau regelrecht geheult. Besonders ich war ihnen ans Herz gewachsen.

Und nun das Neueste. Trotz meines biblischen Alters bin ich für würdig erachtet worden, an dem Fahnenjunkerlehrgang teilzunehmen. Ich habe dies wohl der guten Beurteilung meines Chefs zu verdanken. Aber nun kommt die große Enttäuschung. Wahrscheinlich kann ich nicht nach Godesberg kommen. Wir werden so um den 25. oder 26. von hier per Sammeltransport auf einen Ausweis für alle Teilnehmer in Marsch gesetzt und müssen schon am 29.5. in Utrecht sein. Ich habe eine unbeschreibliche Wut im Leibe. Der Lehrgang dauert 2 Monate. Hoffentlich bietet sich danach wenigstens Gelegenheit.

Später, d.h. wenn ich den jetzigen Lehrgang bestehe, muß ich noch einige Monate Kriegsschule machen.

Die 1. Kompanie liegt auch hier in der Gegend. Heute hat mich Oblt. Augenstein eingeladen gehabt. Zwischen 2 Dienstfahrten bin ich dann dort vorbeigefahren und habe zum Abschied mit Augenstein, Back u. Teupel eine Flasche Mosel getrunken. Wo sie die herhatten, ist mir nicht klar.

Aber nun muß ich wieder was tun. Ich grüße Dich recht herzlich und küsse Dich innig auf Deinen lieben guten Mund.

Ich bin immer
Dein Hannes.