Gustav Roos an Mutter Elisabeth, 7. Juni 1940
Hannover, den 7. Juni 1940
Liebe Mutter!
Zuerst muss ich meinem höchsten Missfallen über Euer langes Schweigen Ausdruck geben. Ich schreibe Euch dreimal. Zwei Wochen verstreichen und dann endlich bekomme ich Antwort: eine billige Postkarte. 12 Pfennig für einen Brief habt Ihr wohl nicht mehr übrig. Ich werde jetzt in jeden Brief das Porto beilegen, um Euch diese immensen und völlig unnötigen Kosten zu ersparen. Sonst danke ich Euch wirklich dafür, dass ihr wenigstens noch eine Postkarte halb voll geschrieben habt. Ja, ich weiss es ist schwer einen Brief an einen Sohn und Bruder zu schreiben. Ich kann mir vorstellen, welche Mühe es Euch gemacht hat, so einzeln Wort für Wort auszuquetschen. Und einen Brief so mit ausgequetschten Worten zu füllen, ist ja auch ziemlich viel verlangt. Aber Ihr seid es nicht allein, von dem alten Herrn habe ich auch noch keine Zeile erhalten. Jetzt komme ich zur Kritik Eurer Karte: Sechs Zeilen waren von Mutter. Zuerst Quittung von meinen Schreiben. (Vollständig unnötig, kann mir denken, dass sie angekommen sind.) 2. Entschuldigung für das lange Schweigen!! (Da gibt’s keine Entschuldigung!!! Eine Stunde weniger Klaaf mit Frau Welter und schon wäre ein langer Brief fertig gewesen!) Das waren die ersten vier Zeilen. In der fünften Zeile freut sie sich über meine grosse Arbeit und in der sechsten war Vater Samstag und Sonntag zu Hause. „Sonst alles beim alten. Herzliche Grüsse Mutter“. Kommentar überflüssig!! Mein lieber Bruder Günter fand wahrhaftig Zeit, seinem überlasteten Hirn 4 knappe Zeilen auszuquetschen und damit die zweite Hälfte der Karte zu füllen. Diese vier Reihen sind glatter Hohn. Ein viertel Jahr lang hört man überhaupt nichts von ihm. Dann hört er etwas von einem Geschenk und schon gelingt es ihm 4 (in Worten „vier“) Zeilen aufs Papier zu kletschen. Zur Erheiterung der Leser will ich sie hier wiedergeben.
„Lieber (!!) Gustav! (Was Geschenke nicht alles machen!)
„Karte erhalten! Vielen Dank! (Überflüssig!) Bin mal auf das Geschenk gespannt. (Aha!! Da liegt der Hase im Pfeffer.) Am 1.6.40 ist das Schwimmbad eröffnet worden. 15°. Brrh! (Was mich das interessiert!!) Denke in deinen (kleingeschrieben) nächsten Paket (Ich glaube der träumt nur noch von Paketen und Geschenken) [..]eben dem herrlichen Geschenk (Hört! Hört!!)
auch an Rechenschieber und Logarithmentafel! Sonst viele Grüsse Günther!
Als ich diese Karte gelesen hatte, blieb mir die Spucke weg. Ich wollte Euch eigentlich vorläufig auch nicht mehr schreiben. Aber da ich ja Stoff hatte, konnte ich mir diesen Brief nicht verkneifen.
Zu meiner Arbeit. Diese Woche hatte und habe ich zutun:
33 Std. Vorlesungen u. Übungen
2 Std. Sportvorlesung.
4 Std. Sport
1 Std. Schiessen
1 Std. Fechten
4 Std. Kameradschaft
2 Std. Fachschaftsversammlung
2 Std. Bauhütte
= 49 Std.
Ausserdem muss ich 4 Zeichnungen fertigmachen und Kolleghefte nachholen. Das ist doch Arbeit genug!!
Am Donnerstag bin ich in die Kameradschaft aufgenommen worden. Seitdem habe ich auch Fechten. Denn sie ist, wie alle Kameradschaften schlagend. Unsere Waffe ist leichter Säbel. Nach der ersten scharfen Mensur wird das holde Antlitzt deines Sohnes durch einige blaurote Schmisse oder mindestens durch das Fehlen der einen Nasenhälfte geziert sein. Mir gefällt es in der Kameradschaft ganz gut.
Mit meinen Lebensmittel-Karten bin ich bisher ganz gut ausgekommen.
Wie geht es sonst noch in Brühl? Steigt ihr noch oft in den Keller? Was spielt Günther denn jetzt? Hat er den vierten Mann zum Skat gefunden? Ausserdem Samstag, wo ich abfuhr, hatten wir am Samstag noch einen Fliegeralarm. Eine Stunde lang hat er gedauert. Ich war noch am Zeichnen und in Keller gegangen sind wir nicht. Zu hören und zu sehen gab es nichts. Bei Euch scheint ja was los zu sein. Immer hört man ja in den Berichten: „In der vergangenen Nacht warfen feindliche Flieger wieder planlos über Westdeutschland ab.“ In der Zeitung las ich, in der Gegend von Jülich seien allein 146 Eier gefallen. Was ist in und um Brühl passiert?
Diese Woche habe ich mich 2 x erschreckt. Vorigen Samstag kam ein Brief vom Wehrbezirkskommando Hannover. „Sie haben uns umgehend mitzuteilen, wann Sie
Ihr Studium beenden wollen!“ Montags morgens bin ich dann zitternd und bebend zum Waterlooplatz gegondelt. Ich habe dann gesagt, dass ich Ostern vielleicht mein Vorexamen machen könne und in 2-3 Jahre mein Diplom. Dann habe ich gefragt, wann ich „hoffen“ dürfe eingezogen zu werden. Man sagte mir dann, man habe mich doch nicht entlassen um mich gleich darauf wieder einzuziehen! Hoffentlich denken sie immer so!!
Um so grösser war mein Schreck als ich für Montag kommender Woche eine Gestellungsaufforderung erhielt. Ich direkt hin. Und es stellte sich heraus, dass das Ganze ein Versehen war.
Am Samstag in 14 Tagen machen wir Architekten eine Fahrt nach dem Steinhuder Meer mit Damen, die die Fachschaft eingeladen hat. Ich bin mal gespannt. was das gibt.
Noch eine grosse Neuigkeit: Am 27. Juli gehen wir wahrscheinlich in die Erntehilfe. Die Kameradschaften „freiwillig“ die anderen Studenten unfreiwillig. Wohin? Es heisst mal nach Wolhynien (siehe Karte „Polen“) oder polnische Ukraine. Mal heisst es auch wieder, wir blieben wegen Transportschwierigkeiten in Niedersachsen. Wer sich weigert mitzugehen, muss 3 Wochen mit polnischen Juden Strassen bauen. Tut er auch das nicht kommt er ins Konzertlager. Also Aussichten! Am 27. August sollen wir wieder kommen. Fängt dann das Semester am 1.9. an, kann ich vor Weihnachten nicht mehr nach Hause. Fängt es aber am 15. an komme ich natürlich!
So, das wäre mal wieder alles!
Noch eins! Wir haben in der Kameradschaft eine kleine Kapelle und da soll ich auch mitspielen. Schickt mir also bitte meinen Quetschebüggel mit Noten. Ausserdem benötige ich Seife. Die weissen Handschuhe kannst Du ja auch mitschicken.
Zigaretten!! Über dies Thema könnte ich Bände schreiben. So rar!! Schickt mir bitte ein paar R6 mit. Wenn Du
zu Frölingsdorf gehst und sagst, Du wolltest sie für mich, bekommst Du bestimmt was.
Also tut was für Euren Sohn und Bruder!!
Wenn ich den Quetschebüggel dann bekomme, schicke ich umgehend Geschenk, Rechenschieber und Logarithmentafel. Dann noch was: Wann wäschst Du? Ich komme nämlich kaum mit meinen Hemden bis August aus.
Ich habe eine Marke eingesteckt. Nutzt sie aus!!
Die besten Grüsse
von Euerem überbelasteten
Ich muss noch einen Nachtrag schreiben. Also diese Nacht hatten wir wieder Besuch. 1 ½ Stunden lang! Geknallt hat hat die Flak furchtbar. Die Flieger sind oben herumgeflogen. Immer rund. Geworfen haben sie so viel ich erfahren habe nicht.
Von Vater habe ich heute auch etwas bekommen. Aber einen langen Brief, nicht eine billige Postkarte.
Dann fällt mir ein: Du könntest mir auch gut ein Döppchen für die Butter schicken. Ich muss sie sonst immer im Papier halten.
Also nochmal
Alles Gute