Gustav Roos an Vater Toni, 4. September 1940

Brühl, den 4. September 1940

Lieber Vater!

Heute vor einer Woche sass ich noch in Hohenkirch. Die schönen Tage dort gingen leider zu schnell vorüber. Und so fuhren wir vorigen Mittwoch um 8.00 nach einem rührenden Abschied von unsern Bauern ab. Zuerst ging’s mal nach Thorn. Dort bekamen wir vom Arbeitsamt unsere Fahrkarte „Thorn – Brühl = 1287 km = 55 RM“. Um 10.00 fuhren wir von dort wieder los in den Osten, nach Deutsch Eylau. Kurz nach Mittag fuhren wir über die ehemalige deutsch-polnische Grenze und kurz darauf fuhren wir in Deutsch-Eylau ein. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie gross der Unterschied zwischen den zwei Gebieten ist. Landschaftlich ist, wie gesagt, Westpreussen schöner. Es ist abwechslungsreicher, während Ostpreussen eben ist und langweilig. Aber wir sahen wieder mal endlich anständige, saubere Asphaltstrassen. Asphaltierte Strassen gibt es im Korridor nicht. Saubere Dörfer, Lichtleitungen. Das hatte ich 4 Wochen nicht gesehen. Nach einer halben Stunde Aufenthalt in Deutsch-Eylau fuhren wir weiter nach Marienburg. 3.00 waren wir da. Du wirst staunen! Marienburg ist das schönste Städtchen, was ich bisher gesehen habe. Alte Fachwerkhäuser, Passagen, die parallel zur Strasse als zweiter Bürgersteig unter den Fachwerkhäuschen sich hinziehen. Fabelhafte Gärten, kleine Parks. Und dann die Burg. Du stehst davor und kannst nichts sagen. Ein Bau von ganz gewaltigen Ausmassen. Gebaut in einem nüchternen, echt preussischem Stil. Aber gerade das lässt die Burg so ruhig und klar im Aufbau erscheinen. Wenn Du über die Nogat gehst und dann von Westen über dem Fluss die Burg siehst, daneben die kleinen, bunten Fachwerkhäuschen im rötlichen Schein der untergehenden Sonne – also das ist wunderbar! Im Burghof fand für uns 60 Studenten eine kleine Feier statt. Gott sei Dank mal eine geschmackvolle, ohne Reden!! Sowas kommt ja selten vor. Einige Stücke von Mozart, die Variationen über das Deutschlandlied, wurden gespielt. Sowas kann mich ja im allgemeinen nicht reizen, aber in diesem Rahmen wirkte es. Dahns „Marienburger Mette“ wurde vorgetragen. Und dann war es aus. Um 6.00 fuhr unser Zug ab nach Danzig. Kurz nach 8 lief er dort ein. Es war schon ziemlich dunkel. Hier in Danzig sollten wir bis Donnerstag Morgen bleiben. Da ich aber nicht gerne auf Stroh schlafe und es ja doch am anderen Morgen um 11 wieder weiterging, und ich keinen Pfennig Geld mehr in der Tasche hatte, beschloss ich mit, einem Kameraden, den Nachtzug nach Berlin zu benutzen. Wir haben von Danzig noch gesehen, was man unbedingt sehen muss. Das Rathaus, die alte Kirche, den Hafen, das Krantor und die Kornspeicher. Kurz und schmerzlos. Danzig ist bekanntlich nicht verdunkelt und so ging das sogar am Abend. 23.00 fuhren wir los, über Dirschau, Schneidemühl, nach Berlin. Diese Nacht im D-Zug war furchtbar. Ich hatte keinen Mantel mit. Und es war so kalt. Weil ich intensiv mit dem Zittern beschäftigt war, kam ich nicht zum schlafen. Ich hatte kein Geld, konnte mir auch nichts zu lesen kaufen. Aber

auch diese Nacht ging vorüber, und um 8.00 kamen wir in Berlin auf dem Bahnhof Friedrichstrasse an. Ich wäre auch wohl mal in Berlin geblieben, wenn ich noch Geld und meinen guten Anzug dagehabt hätte. So aber sah ich mich gezwungen, eine halbe Stunde später wieder abzudampfen. Bis Köln habe ich dann im Zug gestanden, von morgens 8 bis abends 6, also 10 Stunden. Um 7.00 war ich in Brühl. Mutter war leicht gerührt. Sie hatte mich erst für Montag erwartet. Zuerst wurde mir dann nach der Reihe vorgeführt, was Du geschickt hattest. Günther war Mannequin. Ich hatte mich schon auf allerhand gefasst gemacht, aber das übertraf meine Erwartungen. Am nächsten Tag staunte Brühl über unsere Eleganz. In diesem Zusammenhang sehe ich mich dann veranlasst, Dir tiefgerührt den wärmsten Dank auszusprechen. Fahre nur so fort! Wo ich nun gerade den wärmsten Dank zum Ausdruck gebracht habe, möchte ich direkt auch wieder eine Bitte anschliessen. Da ich hier Gelegenheit hatte Günthers Strandgarnitur in Weiss zu bewundern und mir diese, ins Besondere, das Käppi, ausgezeichnet gefallen hat, möchte ich bescheiden anfragen, ob es Dir möglich sein wird, wenn das Nötige all da ist, mir auch so etwas, aber mit langer Hose, zu beschaffen. Denn gerade das hat mir noch gefehlt. Mutter darf aber nichts davon wissen; denn sowas ist ja Luxus. Gestern kamen die Schuhe an. Die Sportschuhe passen Günther, der ja auf grösserem Fusse lebt, die anderen Schuhe No. 40 sind mir etwas zu klein. Mutter hat sie deshalb zum Schuster gebracht, damit er sie etwas weiter macht. Die Hemden passen alle ausgezeichnet. Die Pantoffel und die Segeltuchschuhe passen auch gut. Die Schlipse und Schals sind wunderbar. Mal endlich was anderes als immer „gedeckte Farben“, wie man sie hier im allgemeinen nur tragen darf. Ein dunkles Hemd mit hellem Schlips kann ja die Brühler reizen. Und wenn man dann auf das Hemd ein rotes oder blaues Halstuch trägt, sind sie weg. Aber das kann uns ja nicht erschüttern.

Optimistisch, wie Du bist, behauptest Du in dem Brief, den wir heute bekamen, die Aktivität der britischen Flieger habe nachgelassen. Das können wir hier nicht gerade behaupten. Jede Nacht um 11-12.00 in den Keller. Gestern Nacht war es ganz toll. Ich hatte ja Geburtstag und war raus. Um 10.00 kam ich nach Hause. Scheinwerfer standen am Himmel und es wurde schon geschossen. 10.15 kam Alarm. Die Flieger waren schon über uns. Wir standen mit dem Fernglas am Fenster. Plötzlich sah man, wie ein Flieger durch einen Scheinwerfer flog. Sofort richteten sich auch alle andern auf den Punkt. Das war so über Lüchtefelds Haus. Der Engländer vertraute auf die Flak und fuhr ruhig weiter nach Westen. Wie toll wurde geschossen. Der Engländer flog weiter. Die Granaten krepierten rund um den Flieger, der ruhig einen grossen Bogen schlug, über R.W.E. eine Leuchtkugel fallen liess und dann wieder nach Osten zurückflog. Das dauerte etwa ¼ Std. Der Flieger war im Scheinwerfer, die Flak böllerte verrückt, trotzdem machte der Brite keine Anstrengungen aus dem Strahl hinauszukommen. Eine Viertelstunde schoss die Flak. Dann war der Engländer raus. Kaum in Ruhe gelassen, warf er zwei Leuchtkugeln nacheinander über Brühl ab. Alles war taghell erleuchtet. Dann hörte man etwa in Schwadorf 3 Bomben. Bis dahin hatten wir am Fenster gestanden. Jetzt gings richtig los. Von allen Seiten kamen Engländer, etwa 5-8 Stück. Da wurde es höchste Zeit. Also runter in den Keller. Bis 1.00 sassen wir dort. Es wurde entwarnt. Das heisst aber nicht, dass die Flieger alle weg waren. Im Gegenteil. Es ging noch weiter bis 4.00. 2 Bomben

fielen noch. Was sie angerichtet haben ist noch unbekannt. Die Polizei war diese Nacht auf Tour. Wie gesagt wird, sollen englische Fallschirmjäger abgesprungen sein. Es wird gesagt! In der vorletzten Nacht warfen die Engländer Bomben in die Maschinenhalle der Gold u. Silber-Scheideanstalt und Brandbomben auf die Konservenfabrik in Sechtem, die in Flammen aufging. Aber all das ist ja Kinderspiel gegen das, was augenblicklich in England los sein wird. Wenn man hört, dass 700 Bomber am 31. über London waren, kann man Gott danken, dass es nicht umgekehrt ist. Lange werden die Engländer wohl auch nicht mehr rein können; denn wie man hört, kann es täglich losgehn und dann „vae victis!“

Mit Ausnahme der nächtlichen Stunden hier im Keller, gefällt es mir wieder ganz gut in Brühl. Was ich tue? Ich bummle abends, und tagsüber wird gezeichnet und gelesen. Lange wird das Leben ja nicht mehr dauern. Am Montag beginnt das Semester. Bis zum 15. geht die Einschreibefrist. Am 11. oder 12. muss ich also nach Hannover abhauen. Sonst verteuert sich die Sache um 10 Rm. Wie ist es dann? Kommst Du bis zum 10. noch mal nach Brühl? Sieh’ doch mal, was da zu machen ist. Wir haben uns 2 Monate nicht mehr gesehen. Es wird höchste Zeit, dass Du Dich mal wieder hier sehen lässt!!

Also tue Dein Möglichstes!

Die besten Grüsse und die herzlichsten Glückwünsche zur Beförderung zum stellv. Personalchef.

Einliegend 2 Bilder aus der Erntehilfe: Gerda und ich!