Gustav Roos an Vater Toni, 18. September 1940

Hannover, den 18.9.1940

Lieber Vater!

Deinen Brief habe ich heute morgen erhalten. Ich will Dir sofort antworten, da ich sonst diese Woche wohl kaum noch Zeit dazu haben werde. Ich hab’ nämlich verdammt viel zu tun. 1. mache ich ja 2 Semester auf einmal. 2. bin ich Lumo, das heisst Lustmolch in der Kameradschaft; ich habe also die Feste, Kneipen, Tanztees zu arrangieren, die Damen einzuladen u. s. w., ausserdem bin ich Altkamerad geworden, was sonst erst nach 3 Semestern zu geschehen pflegt und 3. muss ich für die Studentenführung und die T-H. Plakate entwerfen und zeichnen. Augenblicklich habe ich bis Sonntag 3 Plakate für die Studentenführung zu machen: „Deutscher Student, was weisst Du von unseren Kolonien?“ Für die Kameradschaft muss ich 1 Kneipe mit alten Herren für Samstag und einen Damenabend für Samstag in 8 Tagen vorbereiten. Ausserdem muss ich für die Kneipe die Biermimiken, die ja unbedingt ein Kölner machen muss, vorbereiten. Daneben läuft dann noch das Studium. Augenblicklich habe ich folgenden Stundenplan:

8-9 Baukonstr./Werklehre/
9-10 Baukonstr./Werklehre/Techn. Zeichn./-/Stillehre/
10-11 Baukonstr./Baukonstr./Techn. Zeichn./-/Stillehre/
11-12 Baukonstr./-/Stillehre/Statik/Bauko/
12-13 Aufnehmen/-/Stillehre/Statik/Bauko/
15-16 Aufnehmen/-/-/Aktzeichn./Aktz./Plastik./
16-17 Aufnehmen/-/-/Aktzeichn./Aktz./Plastik./
17-18 Kunstg./Statik/-/Aktzeichn./Aktz./Plastik./
18-19 Kunstg./Statik/-/Aktzeichn./Aktz./Plastik/
19-20 Seminar/-/-/Aktzeichn./Aktz./Plastik./

Mit meinen Kollegs bin ich bei. Alles ist schon eingeschrieben. Meine Zeichnungen sind auch fertig. Und die Vorlesungen besuche ich auch regelmässig. Also Du brauchst Dir keine Sorge zu machen, dass ich bummle; denn ersten weiss ich ganz genau, dass das Studieren die Hauptsache ist und alles andere nur unwesentlich und zweitens gefällt es mir viel zu gut. Was ich niemals geglaubt hätte, die Architektur macht mir wirklich Spass. Und ich bin heute froh, dass ich den Beruf gewählt habe und nicht die trockene Kunstgeschichte.

Das was ich im ersten Semester jetzt lerne, ist für mich natürlich halb so schwer, und das vom 3. ist auch nicht schwer, aber sehr interessant. So z. B. Baugeschichte. Hier pflegt Prof. Fischer die „Kunst“ des dritten Reiches zu kritisieren. Was er davon hält, sagen folgende Aussprüche von ihm:

1. „Unsere heutige Kunst ist Politik!“

2. „In unserer heutigen deutschen Baukunst gibt es 2 Richtungen ersten eine klassische, die die Nachahmung der antiken Griechischen Bauweise erstrebt (s. Troost, Speer u. a.) und auf der anderen Seite eine Richtung die nordisch-germanische Bauformen modernisieren will, - und zwischen beiden Richtungen, auf der Strasse, fahren Autos!“

Das heisst also, in unserem Zeitalter der Technik, der Autos, der Elektrizität hat das Altertum nichts mehr zu suchen. Wir erstreben einen neuen, unserer Zeit angepassten Stil, keine 7. Renaissance. Fischer erzieht uns in diesem Sinne, und mit Erfolg; denn es ist ja nicht schwer zu erkennen, dass sich unsere Baukunst in eine Sackgasse verlaufen hat. Also keine Angst. Ds Semester geht in Ordnung.

Sonst geht es mir sehr gut. Meine Bude ist wirklich ein Glanzstück. Küche, Wohn- und Schlafzimmer mit Morgenkaffee 23 Rm. Von den Mängeln, die sich sonst so nach einer Woche bei billigen Wohnungen einzustellen pflegen, habe ich noch nichts gemerkt. Meine Wirtin ist eine ältere resolute Frau, etwa wie Oma, sauber und pünktlich. Ich kann morgens um 7.00 aufstehen, der Kaffee ist da. Stehe ich um 10 auf, steht er auch und ist noch heiss. Ich habe nachkontrolliert, ob sie sich etwa an meinen Lebensmitteln mal ab und zu vergreift oder meine Schubladen kontrolliert. Keine Spur! Kaum zu glauben, nicht? Dann diese Ruhe hier. In einer Nebenstrasse, wo sich kein Auto blicken lässt, in einem grossen Garten. Also es ist zu schön!

Dann noch eins. Habe ich oben vergessen! In Statik komme ich jetzt glänzend mit. Im 1. Semester spielend. Im 3. aber auch. Also das widerlichste kann mich jetzt auch nicht mehr schrecken.

Dann, von meinem Anzug habe ich noch nichts gesehen. Als ich Donnerstag abfuhr, (länger zu Hause zu bleiben ging auf keinen Fall mehr, da ich ja alle Testate bis Samstag haben musste) war das Paket noch nicht angekommen. Mutter wollte es mir sofort, wenn es da wäre, nachschicken. Ich müsste es also mindestens morgen oder übermorgen erhalten. Wenn ich es bekomme, teile ich Dir sofort mit, wie der Anzug sitzt. Auf den Trenchcut freue ich mich schon lange, denn ist es warm und es regnet, muss ich mit meinem schweren Ulster rumrennen.

Augenblicklich sitze ich auf meiner Bude, trinke ein Kännchen Kaffee (guten!!) und leide. Das kommt so: Gestern abend sassen wir bei Tante Martha (unserer Stammkneipe) zu vier Architekten und langweilten uns. Da kam einer auf den Gedanken zu knobeln, und zwar, müsse der, der eine vorher bestimmte Zahl werfe, einen Ratzeputz trinken und dürfe 5 Min. lang kein Bier mehr trinken. 6 x wollten wir spielen. 4 x davon war ich der Unglückliche, welcher. Und ich ahnte ja nicht, was Ratzeputz war. Schmeckt nach allem, in der Hauptsache aber nach Pfeffer. Das brennt in der Kehle. Die Augen traten mir aus den Höhlen. Und dann 5 Min. nicht trinken. Es war katastrophal. Trotzdem ich nicht mehr als ein dunkles und die 4 Ratzeputz getrunken hatte, ist mir heute totschlecht.

Finanziell bin ich seit heute wieder auf einem Nullpunkt angelangt. Ohne Fahrt hatte mir Mutter 60 Rm mitgegeben für den halben September. Das hätte ja auch gereicht. Aber bei meiner Ankunft präsentierte mir der Kameradschaftsführer eine Rechnung von 20 Rm. Für Juli, August u. Sept. Beitrag = 3 x 4,50 = 13,50, 3,00 Strafe für zuspätkommen, (Der Kameradschaftsbetrieb hatte nämlich schon am 15.9. begonnen), ausserdem eine Spende von mindestens 3,- für Anschaffungen im Kameradschaftshaus.

Als dann die Miete auch noch weg war, ich 8,-, die ich aus dem Erntedienst noch einem Kameraden schuldete, bezahlt hatte, waren 40,- weg. Nun kommen noch einige Anschaffungen wie Zeichenpapier (der Zeichenblock für Aktzeichnen wurde auf Bestellung aus besonderem Papier für Kohle, Grösse Din A 2, hergestellt) Preis 3,-, Kolleghefte, dann das Leben und schon ist Ebbe. Heute Morgen hatte ich noch 3,-. Dafür habe ich mir noch Wurst, Butter, Käse, Tee, Brot, Eier, für mindestens bis Sonntag geholt und noch 10 R6 und ich war pleite. Eine Postkarte an Mutter ist aber schon abgegangen. Hoffentlich kommt dann bald Geld. Zu Essen hab’ ich ja immer noch. Und wenn ich nichts mehr habe, lasse ich mir auf der Kameradschaft morgens u. abends von Frau Kautz etwas machen. Aber ich habe nichts mehr zum Rauchen. Das ist das Schlimme.

Dann noch eins. Hast Du meinen Brief aus Hannover, von Samstag voriger Woche erhalten? den Brief aus Brühl? und den letzten aus der Erntehilfe? Du hast mir noch nichts davon geschrieben.

Mit den Feldpostpäckchen bin ich natürlich einverstanden; denn die englischen Zigaretten schmecken mir sehr gut. Wenn man sie eine Zeit lang geraucht hat und bekommt dann mal wieder eine deutsche, so schmeckt die einem furchtbar laff. Also, kommen lassen!

Die besten Grüsse und alles Gute, und schon vielen Dank im Voraus für Anzug und Päckchen

Noch einmal meine Adresse:

Gust. Roos
Hannover
An der Düne 11c bei Ahlborn.

Freitag, den 20. Sept. 1940

Ich habe den Brief bis heute hierbehalten, da ich hoffte, das heute ein Paket von Mutter ankäme. Anstatt dessen bekam ich nun eines von Dir folgenden Inhaltes:

2 Herrengürtel
Weisses Leinen
1 Wollenen Unterrock (weiss)
1 Wollenen Unterrock (rosa)
1 Büstenhalter (!!)
1 blaue Damenbluse
4 Herrenunterhemden aus Interlock
6 Herrenunterhosen aus Interlock

Ich habe nun alles nach einem Brief durchstöbert, aber nichts gefunden. Ich stehe vor einem Rätsel. Auf den Paketen steht drauf „Clara Speche, de Panne“. Was nun?

Schreib’ mir bitte sofort, was ich tun soll. Ich warte mal mit dem Nachhause schicken, bis ich Deine Antwort erhalte.

Nochmal alles Gute

und Heil-Hitler