Gustav Roos an Bruder Günther, 19. November 1941

Russland, am 19.11.1941

Lieber Günther!

Deinen Brief vom 15.10. habe ich dankend erhalten. Ja, ja! Ich bin nun mal vor Tula. Ich bin wohl überall dabei. Wenn ein Kessel erledigt ist, dann fragt man sich beim O.K.W.: „Wo ist bald wieder was los?“ „Ah! Bei Tula! Dann setzt mir sofort Gustav Roos dahin in Marsch, damit er nur ja nichts versäumt und die Nase so richtig voll bekommt!“ Und Gustav Roos tippelte...

Überhaupt scheint man mit mir ganz interessante Versuche anstellen zu wollen: „Wielange kann man marschieren ohne umzufallen? Wielange kann man ohne Verpflegung auskommen, ob man sich das Rauchen abgewöhnen kann?“ Solche und ähnliche Versuche stellt man mit grossem Erfolg bei mir an.

Nebenbei war ich ganz anständig erkältet. Auf dem Marsch. Eine totale Erkältung. Sogar mein Bläschen... Es war an einem der letzten Marsch-

tage. Nachts. Gegen 1.00. Ich werde wach. Ein furchtbarer Druck!! Nu aber raus!! Sprung vom Strohlager, in die Stiefel und..., denkste! Ich finde die Türe nicht, taste an Wänden entlang, stolpere über Tisch und Schemel und dann war es soweit. Es ging nicht mehr!! Warm und leise, aber in nicht aufzuhaltendem Laufe, rieselte es die Beine hinunter. Da stand ich nun, machtlos, fühlte wie das warme Nass Unterhose, Strümpfe anfeuchtete, und wie es sich schon bedeutend kühler dann in den Stiefeln sammelte... Am Morgen hatte ein schnell angezündetes Feuer den Kram wieder einigermassen getrocknet.

Das war seit meiner frühen Kindheit das erste Mal wieder!

Nun also vor Tula! Wetter: ~2,0 cm Schnee, 25°-, wir sitzen in einer Bauernkate. Betrieb ist keiner, da wir nur die „Strippe“ überlagern. Wir leben aber wieder besser. Im Kamin glüht es. 2 Hammel haben wir schon seit wir hier sind geschlachtet. Zu 6 Mann. Gebrozzelt, gekocht, ganz

gleich; der Hammel schmeckt! Dazu Kartoffel und ein ganzes Fass eingelegter Pilze, das wir hier vorfanden. Der Russe ist ziemlich ruhig. Ari scheint er kaum noch hier zu haben. Nur seine Granatwerfer beharken uns ganz anständig. Na ja, dafür ist ja Krieg!

Morgen gehen wir für ein paar Tage zurück in Ruhe.

Nun zu meinem Wünschen!

Seit annähert 4 Monaten bitte, flehe ich um Zeichengerät. Erfolglos! Die Frankfurter bekomme ich regelmässig. Euch zur Sendung weiteren Lesematerials zu bewegen ist aussichtslos. Warum? Zu kostspielig? Vater soll mir die Zeitschriften weitergeben! Weg von Euch nach Russland ca. 4 Wochen von Vater zu mir etwa 8 Wochen! So bekäme ich dann immer 3-4 Monate alte Zeitschriften. Nun wende ich mich an Dich! Sende Du mir bitte meine Lieblingszeitschriften wie Hamburger, Reich, Simpli! Dazu Skizzenblöcke, ganz weicher Zeichenstift und Radiergummi!

Und dann wie immer, bitte Rauchwaren und Süsses, süsses!! Plätzchen, Kamelle, Kuchen u. s. w. Nebenbei könnt Ihr vielleicht an Kunsthonig kommen?

Also, denkt an mich!!

Ich wünsche Mutter noch einmal alles Gute zu Ihrem heutigen Namenstag und Dir zu Deinem Namenstag!!! Gestern bekam ich wieder 3 Päckchen. 1. 22 Zigaretten, 2. Plätzchen. 3. Chocolade und Karamellen. Vielen Dank!

Nun, schreib’ mir bald wieder.
Alles Gute und die herzlichsten Grüsse Dir, Mutter und allen Brühler Verwandten.

Heil und Sieg!
Gustav.