Gustav Roos an seine Familie, 10. Mai 1940

Hannover, den 10. Mai 1940

Lieber Vater, liebe Mutter!

Lieber Günther!

Jetzt ist es ja soweit, dass wir in Holland, Belgien und Luxemburg einmarschieren. Heute, Vorlesungen fielen ja aus, kam ich erst um 11.00 zur T.H. Da habe ich es erfahren. Ich war platt. Heute mittag wurde bei den Nachrichten ja gesagt, unsere Truppen gingen im Westen „auf breitester Front“ vor. Ob das auch gegen die Maginotlinie geht? Also wir beide sitzen wie auf heissen Kohlen: kein Radio. Ist zum Verrücktwerden!

Muss Vater jetzt nach Trier zurück? Noch vor Pfingsten? Und bleibt jetzt alles in Trier von der O.B.L.? oder hauen die nach Wiesbaden ab? Habt ihr schon Besuch gehabt? Ich meine von oben.

Schreibt mir bitte mal ausführlich!

Über das Päckchen habe ich mich sehr gefreut. So ganz habt ihr mich doch noch nicht vergessen. Für Pfingsten wäre dann gesorgt. Und Kaffee! Der wird mir gut tun. Der Gedanke selbst zu drehen ist Gold wert. Ich bin auf jeden Fall sehr damit beschäftigt.

Am Mittwoch, wir, Scheuble, Schommers und ich, sitzen nach dem Essen bei Schommers im Zimmer. Auf einmal wird ein Herr gemeldet, und wer kommt rein – Herr Clahsen. Das war ein Theater! Endlich mal wieder einer, der „richtich kölsch platt kalle konnt!“ Wir sind dann einen heben gegangen und um 4.00 musste Herr Clahsen wieder weg. Wir haben uns auf jedenfall sehr gefreut!

Dann kam der Donnerstag abend.

Der Diplomatenabend stieg!

Mit einer halben Stunde akademischer Verspätung begann es um 8.30. Viele „alte Herren“ waren da. Zuerst zwei salbungsvolle Reden, die aber vor Ironie trieften.

Dann war eine halbe Stunde war „colloquium“ freie Unterhaltung. In dieser Zeit hatte ich schon 5 Bier intus. Dann wurde wieder geredet und gesungen. Um 10.30 stieg der Clou des Abends. Das ging so: Lang durch den Saal sassen wir an einem langen, breiten Tisch. In die Mitte des Tisches stellte man nun zwei Bierfässer. Darauf mussten sich nun die beiden „Diplomaten“ setzen. Von den andern bekam jeder eine Kerze auf einem Bierdeckel, der dann ins Kommersbuch gesteckt wurde. Kerze an! Licht aus! Buch mit Kerze in die linke Hand! Bierglas in die rechte! Unter den Klängen eines Studentenliedes zogen wir langsam um die Tische. Jedesmal wenn man nun an

einem der Diplom-aten vorbeikam; stillgestanden! Glas vor die Brust! Angestossen! Ex!! Ab! weitergezogen! Die Bierfüchse rannten! Immer neues Bier! Als die letzte Strophe verklungen war, setzte sich alles wieder, die Diplom-aten stiegen von den Fässern. Die Kerzen blieben an. Nach dieser Zeremonie sah man viele zu einem gewissen Örtchen gehen und nie sah man sie wieder. Im Saal war die Stimmung auf den Höhepunkt gestiegen. Es wurde gesungen und gesoffen. Zu dem Präsidium wurde von den Füchsen ein Gegenpräsidium gewählt, das nun das andere in geistreichen Worten bekämpfte. Der Betrieb ging nun bis 2.00 so weiter. Dann brach man langsam auf. So viel wie an dem Abend habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesoffen. Aber ich habe mich zusammengenommen, immer dazwischen still etwas gegessen, weil ich wusste, dass der Abend auch so etwas, wie eine Probe für mich war. Und so kam es, dass ich trotz allem nicht vollständig besoffen war. Der Architekt, der mich eingeführt hatte, stand 1 ½ Std. über dem Lokus gebeugt. Und der wollte um 3.20 nach Hause fahren. Ich habe ihn mir dann gepackt, seine Koffer genommen und bin mit ihm zum Bahnhof gegondelt. Wir stehen nun in der Halle. Ich löse mir eine Karte, als ich wiederkomme ist der Kerl weg. Ich schnappe den Koffer und gehe auf den Bahnsteig und warte am Ausgang da. Das war nämlich die einzige Möglichkeit. In der Halle […?] konnte man bei dem Betrieb

keinen einzelnen herausfinden. Endlich um 3.10 kam er an. Ein paar andere von uns hatten ihn aufgeschnappt. Er war draussen gewesen, hatte an der Mauer gestanden und wieder seinen Kopp umgespült. Na, ja, ich habe ihn dann in den Zug verfrachtet und war um 3.38 zu Hause. Am andern morgen habe ich Baustofflehre nicht mitgekriegt. (Bleibt selbstredend nur Ausnahmefall). Als Scheuble mich um 8.00 wecken wollte, habe ich zuerst einmal kräftig aus „Götz von Berlingen“ zitiert. Als er dann tätig werden wollte, habe ich mich eine Pantoffel gelangt und ihn sicher an sing Och geworpe. Er sah dann ein, dass hier alles vergeblich war. Ich bin dann gegen 2.00 wach geworden. Als eine wandelnde Bierleiche traf ich eine halbe Stunde in der Pension ein. Nach mehreren Litern Wasser und einem warmen Essen, ging es mir dann etwas besser.

Nachmittags war ich mit Willy auf dem Klagesmarkt. Hier ist Jahrmarkt. Karusselle, Buden, Kirmesbetrieb, und dann Buden in denen Bücher, Töpfe, Leinen, Glas, Schlipse, Anzüge, Wäsche, ja sogar Schreibmaschinen und Pelzmäntel zu kaufen sind. Gestern abend lag ich dann früh im Bett. Heute Abend werden Willy und ich mal zu Thönnissen gehen. Den haben wir die ganze Woche nicht mehr gesehen. Ausserdem ist Mathes ziemlich solide augenblicklich. Morgen ist frei. Und dann kommt Pfingsten. Hoffentlich kommt ihr gut über die Pfingsttage weg.

Wenn Vater meint ich hätte die Bescheinigung

schon vor der Immatrikulation bekommen können, dann ist das ein Irrtum. Gestern morgen konnte ich sie zuerst beantragen! Morgen kann ich sie vielleicht holen. Schicke sie dann sofort.

Dann also amüsiert Euch gut Pfingsten!

Die herzlichsten Grüsse und frohe Pfingsten

an Euch alle

Das ist der Dekan der Abt. für Architektur, Prof. Wickop. Dozent in Baukonstruktion, Werklehre und Werkstoffkunde. Spezialitäten: Bleistift hinterm Ohr, auffallende Schihemde und Fachwerkhäuser. Macht faule Witze. Sonst in Ordnung.