Gustav Roos an Mutter Elisabeth, 5. Mai 1940

Hannover, den 5. Mai 1940

Liebe Mutter!

Deinen Brief vom 29. d. M. habe ich erhalten. Ich freue mich, dass ihr meinen auch bekommen habt! Nur über eines wundere ich mich, dass Günther mir nicht geantwortet hat. Der Brief war doch an ihn gerichtet. Na ja, Anstand und Höflichkeit waren nie seine starken Seiten!! Sowas muss angeboren sein. Das kann man nie lernen. Hoffentlich bekommt er jetzt Gewissensbisse und rafft sich auf, mir einmal zu schreiben.

So, und nun zu Deinem Brief! Es freut mich, dass Du noch Hemden und Socken angeschafft hast. Und Zigaretten!! - !! Ich bin zu Tränen über den Einfall gerührt. Oma habe ich den Vorschlag gemacht den Gewinnertrag eines „Sonntag-Abend-Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spieles“ in Zigaretten umzusetzen! Mit meinen Lebensmittelkarten werde ich ganz gut fertig. Butter teile ich mir immer in Würfel ein. Brot haben wir auch genug. Von Fett brauche ich bei jedem Essen in der Pension nur 5 g abzugeben. Fleisch immer 50 g. Kann aber auch, wenns sein muss, ohne haben. Wenn ich keine Wurst mehr habe, esse ich eben Marmelade. Marmelade und Zucker gibt’s ja genug. Und Eier! Ich habe gestaunt! Diesen Monat habe ich für mich auf a, b, c, d, zusammen 15 Eier bekommen. Huch nein, hat mich das gefreut!

Dann zum Geld! Mein vorletzter Brief scheint nicht angekommen zu sein! Ich hatte nämlich darin den Stand meiner Finanzen festgelegt und Dir Vorschläge gemacht. Also: Mit dem Geld, was ich habe, komme ich bis Juni aus. Die Rechnung der Hochschule kommt an Dich. Dann kannst Du bezahlen, wie Du gerade Lust hast. Ich habe nämlich Ratenzahlung beantragt. Ausserdem

fällt das Schicken und damit das Porto weg. Ich habe das für das beste gehalten. Ich hatte voriger Woche viele Anschaffungen für das Studium zu machen. Zuerst einmal einen Zirkelkasten 28,-. Das ging aber nicht anders; kaufst Du sowas in der Stadt, brauchst Du einen Bezugsschein und den bekommst Du nicht, weil es in der Hochschule sowas zu kaufen gibt. Und dort sind sie nicht billiger. Schommers hat denselben. Ausserdem musste ich Hefte, Blöcke, Zeichenblätter, Bleistifte in verschiedenen Nummern, Federn, Masstäbe, 3 Dreiecke, besondere Federn, und Halter u. s. w. anschaffen. Morgen muss ich mir Turnhose, und –Schuhe anschaffen. Dienstag jeder Woche machen wir Ausfahrten. Letzte Woche waren wir in Hildesheim. Fahrt 3,00 Rm. Dort haben wir gezeichnet und gemessen. Hildesheim ist das schönste Städtchen, das ich kenne. Mit seinen bunten, klaren, Fachwerkbauten, mit seinem Dom und seinen Mädchen. Im Dom haben wir den berühmten 1000jährigen Rosenstock gesehen. Wir waren in Gruppen aufgeteilt und sollten nun zu 3 Mann mit mir, unter anderem einen uralten aber wunderschönen Erker zeichnen und ausmessen. Gezeichnet hatten wir ihn, ausgemessen nur halb. Das andere lag zu hoch. Wir wollten schon unverrichteter Dinge wieder abziehen, da sah einer – man lese und staune – der Bau war das Lyzeum. Ursulinen! Ganz heimatlich! Ein Mann, ein Gedanke! Rein!! Der Schwester Pförtnerin machten wir unsere Absicht klar. Sie rief die Oberin. Nach einigem Zögern wurde uns

die Erlaubnis erteilt, weiter ins Kloster vorzudringen. Alleine? Um Gotteswillen! Unter Bedeckung von 2 Schwestern schlichen wir zum Erkerzimmer. Wer kann unser Entzücken beschreiben, als wir in das Erkerzimmer kamen. Es war Aufenthaltsraum des Silentiums. Und es war gerade Silentium. Und es waren Mädchen da. Es waren Mädchen da!! Das war ein Gaudi. Eine Stunde sind wir geblieben und haben „gemessen“. Anschliessend waren wir noch in einem Café mit Tanzmusik. Und um 11.00 waren wir wieder in Hannover.

Am ersten Mai und Himmelfahrt hatte mich die Arbeitswut gepackt. Da an Feiertagen unser Gebäude geschlossen ist, bin ich durch ein Kellerfenster hineingekommen. Am ersten Mai habe ich dort von 2-7.00 an einem Entwurf für ein Fischerhäuschen gearbeitet. Himmelfahrt von 11-9.00 ohne Mittagessen durch. Sonst ist hier alles beim alten. Ich habe ziemlich viel zu tun augenblicklich.

30 Std. die Woche und abends noch alles ausarbeiten. Daneben noch entwerfen.

Mittwoch ist Immatrikulation.

Samstag, Sonntag, Montag u. Dienstag ist frei nächste Woche.

Pfingstsonntag gehe ich hier zur N.S. Bühne Kraft d. Freude. Ganz gross! weisst Du wer all da ist.

Jupp Schmitz
Peter Igelhoff
Rosita Serano
Franz Grohte
Schurike Terzett

und

Kapelle Joe Bund.

Wird also ganz gross!!

Wenn Du sonst noch was wissen möchtest, schreib’ bitte. „Och“ sagen kann ich ja nicht mehr.

Sonst wünsche ich Euch alles Gute!

Die herzlichsten Grüsse

Lieber Günther!

Ich peinlich berührt, ob deines Verhaltens. Bessere Dich! Schreib’!

Gib’ den beigefügten Zettel bitte Paul!

Denk’ aber bitte dran!

Vergiss’ den nötigen Komentar nicht!

Also die besten Grüsse

von deinem peinlich berührten Bruder