Gustav Roos an Bruder Günther, 28. April 1940

Hannover, den 28. April 40.

Lieber Günther!

Zu meinem grössten Erstaunen bemerke ich, dass gewisse Leute in Brühl und Trier mein Fortsein durch anhaltendes Schweigen begrüssen. Von einem dieser Personen aus Brühl bekam ich nur 4 zynische Zeilen. Von der aus Trier laufen nur Droh- und Erpressungsbriefe ein. Heute morgen werde ich wach, da reicht mir Scheuble einen Brief folgenden Inhalts:

„Lieber Sohn Gustav!

Deine Karte erhalten. Zigaretten nicht eher, bevor nicht Immatrikulation hier. Zudem mache ich Dich darauf aufmerksam, dass ich Dir am 1.5.40 Rm 5,- in Abzug bringe, wenn ich bis dannen die Bescheinigung nicht habe. Mir geht es gut, was ich auch von Dir hoffe. Mit Gruss und Heil Hitler!

Vater

z. Zt. Trier.“

Was sagst Du nun dazu. Das ist doch Erpressung! Was kann man da anders machen, als alles geforderte umgehend per Eilboten abzusenden; Denn hier gibt es, wie Du vielleicht schon erfahren hast, weder Zigaretten noch sonst etwas!!! Ich meine nur so .......!! Ja?! Na, das ist ja wirklich nett von Dir!!

Dann interessiert Dich vielleicht auch, etwas vom Studium zu hören. Also alles gefällt mir ausgezeichnet. Bis auf die Statik. Die liegt mir so’n bischen im Magen und stösst auf. Ist ja auch kein Wunder, da wir ja mitten ins 2. Trimester hinein geschneit kommen. Wie das hier geht? Pass’ auf! In der Vorlesung trägt der Professor

vor. Wir pinnen fleissig mit. Nachmittags trage ich das gehörte dann ins reine und arbeite es aus. In der Übung, deren ich noch keine mitgemacht habe, weil ich noch kein Reissbrett habe, wird dann noch erklärt und gezeichnet. Die Professoren sind alle in Ordnung. Unser Kunstgeschichtler ist ganz Gentleman: Ein netter Kerl. Braunes scharf geschnittenes Gesicht, graumeliertes Haar. Dann weisse Schuhe, weisse Hose, weisses Hemd mit gelbem Schlips, blauen Pullover und hellblauen Rock. So was muss ja auffallen.

In Baukonstruktions-, Baugestaltungs- und Baustofflehre liest Prof. Wickop über das Holz. Seine Eigenschaften, Entstehung, Verwendung und Anwendung.

Im „Aufnehmen von Gebäuden und –teilen fahren wir jeden Dienstag raus, übermorgen z. B. nach Hildesheim, dann nach Celle, und nehmen dort alte Fachwerkhäuser auf, d. h. wir vermessen sie.

Im techn. Zeichnen lehrt Prof. Hölscher die Perspektive.

In Kunstgeschichte hören wir bei Habicht, Kunst des Altertums und moderne Kunst. In Vermessungskunde lernen wir vermessen und Architekturzeichnen ist das Zeichnen von Gebäuden.

Was Statik ist, kannst Du Dir ja denken.

Wir Architekten haben eine eigene Verbindung „Die Bauhütte zum weissen Brett“. Ganz gross! Am Freitag hatten wir erste Kneipe. Zuerst mal der Raum! Fabelhaft! Lange Tischreihen in Hufeisen-Form. Weisse Wände mit schweren Balken in den Wänden, so ähnlich wie im Paulaner in Trier. Alte Ölbilder. Wandreliefs. Und [...]tastische Lampions. Wir waren etwa 30 Mann, alle Profes-

soren waren da und dann gings los. Wir kennen mehrere Grade: 1. Der Meister vom Stuhl. 2. Die Meister, 3. die Altgesellen, 4. Gesellen. 5. Junggesellen oder Füchse. Zuerst wurden 60 Pf. eingesammelt. Dafür konnten wir den ganzen Abend frei saufen. Dann schlug der Meister vom Stuhl 3 x mit einem schweren Holzhammer auf den Tisch. Begrüssung der Anwesenden und Aufnahme der Füchse, das sind wir neuen. Dann erster Teil: Prof. Hölscher sprach genau eine Stunde über die geistigen Ströme der mittelalterlichen Baukunst. Dem lag eine Wette zu Grunde. Er hatte nämlich gewettet, er könne in einer Stunde die ganze mittelalterliche Baukunst bringen, von 500 n. Chr., dem Übertritt Chlodwigs zum Christentum bis zum Humanismus. Also Byzantinismus, Romanik und Gotik. Eine gute Leistung! Zweiter Teil bestand aus Biermimik, Saufen, Reden, jeder musste etwas quatschen, und wieder saufen. Bis 1.00, Schluss. Dann sind wir noch in eine Frühstücksstube gegangen und haben einen Teller Erbsensuppe gegessen. Dann sind wir nach Hause gegangen, d. h. ich wollte nach Hause gehen. Als ich aber vor der Haustür ankam, bemerkte ich, dass ich meinen Schlüssel vergessen hatte. Da begann eine furchtbare und heimtückisch kalte Nacht! Noch war ich nicht müde. Also bin ich spazieren gegangen. Durch Hannover. Öde! Kein Mensch auf der Strasse! Keine Wirtschaft auf! Ich immer weiter! Dann mal wieder zum Volgersweg! Wieder um! Zum Bahnhof. Dort was gewärmt und rumgesessen. Bis 5.00! Von da an habe ich mich in einer Telephonzelle 20 m vom Hause entfernt aufgehalten. Eisige Kälte! Oh, und müde! Und keine Zigarette!! Dann fing ich stehend an zu pennen. Plötzlich sackten mir die Knie zusammen.

Ich fuhr wieder auf. Und die Kälte! Endlich um halb sieben ging bei uns die Türe auf. Blau vor Kälte fiel ich 6.45 dann in die molligen Kissen. Da ich nun Samstag kein Kolleg habe, konnte ich bis zum Essen schlafen. Aber den Türschlüssel habe ich, glaub’ ich, zum letzten Mal vergessen.

So, allmählich wirds Zeit zum Essen. Da Sonntag ist, müssen wir zur Stadtschenke. Sag’ Mutter doch bitte sie solle doch bitte das Reissbrett schicken und Zigaretten gibts auch nicht in Hannover!!

Ich schicke Dir eine Plastik mit. „Adagio“ von Kolbe. Schreib’ mir mal wie sie Dir gefällt!

Also, die besten Grüße

sendet Dir, Mutter und den Omas