Gustav Roos an Vater Toni, 8. Juni 1940
Hannover, den 8. Juni 1940
Lieber Vater!
Über Deinen Brief habe ich mich sehr gefreut. Brot- und Buttermarken und Geld habe ich mit einem Seufzer der Erleichterung eingesteckt.
Meine Arbeit ist augenblicklich wirklich ziemlich gross. 50 Stunden Vorlesung, Sport, Fachschafts-, Kameradschaft- und Bauhüttenversammlung habe ich die Woche. Dazu kommen dann noch 3-4 Zeichnungen und die Kolleghefte. Bei diesem Wüten bleibt kein Auge trocken. Zeit viel auszugehen habe ich natürlich auch nicht.
Es wird dich vielleicht interessieren, was wir so alles machen. In Baukonstruktion, wohl dem wichtigsten Fach, bauen wir, das heist entwerfen wir ein „Fischerhaus in Eichenfachwerk“. Den Vorentwurf dazu habe ich mit in Brühl gehabt. Jetzt sind wir bei den richtigen Entwürfen und den Ausarbeitungen. 5 Blätter sind schon vollgekletscht, mit den Balkenkonstruktionen, dem Dachbau, den Fenstern, den Türen, Betonguss, mit den Details dazu und mit allem, was so an einem kleinen Fachwerkhaus zu zeichnen ist. Das schönste ist, wenn wir mit Tusche ausziehen, dürfen wir kein Lineal benutzen. Das ist bei langen, geraden Strichen ziemlich peinlich. In den Vorlesungen der Baukonstruktion verfolgen wir die Entwicklung der einzelnen Haustypen von der Urzeit bis zur Gegenwart. Das Schöne ist, dass ich heute merke, was uns in 8 Jahren auf der Penne erzählt worden ist, ist grösstenteils Quatsch. In Baugestaltungslehre lernen wir dann die Technik des Mauerns, des Betongusses, des Fachwerkbauens kennen. Den Stoff, den Werkstoff, Naturstein, Ziegel, Eisen, Stahl, Beton, Holz, ihre Eigenschaften, ihre Behandlung und Anwendung lehrt uns die Baustoffkunde. Fünf Stunden in der Woche messen wir in Feld- und Höhenmessen, Entfernungen
und Winkel mit Nivellierinstrument und Theodolit. Dienstags fahren wir nach Hildesheim oder Celle und messen dort Häuser aus und zeichnen sie dann zu Hause masstäblich auf. Statik ist ja die Berechnung von Kräften und Belastungen, die auf eine Fläche drücken. Zeichnerischer Ausbildung dient „Technisches Zeichen. In der Vorlesung liest der Dozent „Perspektive“ und in der Übung darauf müssen wir dann aus Grund- und Aufriss die perspektivische Ansicht konstruieren. In „Aquarellieren“ kann ich nicht mitmachen, da ich keinen Farbkasten habe. Aktzeichnen folgt erst im Wintersemester, musste im Sommer wegen allgemeiner Hitze ausfallen.
Dann kommt Kunstgeschichte. Bis diese Woche konnte ich die Vorlesungen noch hören. 2 Std. haben wir allgemeine Kunstgeschichte und 2 Std. Malerei und Plastik der Gegenwart vom Impressionismus bis heute. Ist so in Ordnung! Leider ist auf der Fachschaftsversammlung am Donnerstag beschlossen worden, den Professor Habicht, den ich Dir ja mal beschrieben habe, zu boykottieren. Man behauptet seine Lehrweise sei nicht richtig und er ist deshalb schlecht gelitten, weil er von der Partei auf diesen Posten geschoben wurde. Mir haben seine Vorlesungen gefallen. Aber gegen die Masse kann man nichts machen.
Am Donnerstag voriger Woche bin ich in die Kameradschaft aufgenommen worden. Im allgemeinen gefällt es mir ganz gut. Ein Vorteil ist, dass ich hier mehr Leute kennenlerne als so. Die Kameradschaft von heute ist allerdings meiner Ansicht nach nur was halbes, eine nicht gerade gelungene Kreuzung von Parteiorganisation und studentischer Verbindung. Manchmal ist der Betrieb direkt lächerlich.
Die Kameradschaften sind Gottseidank schlagend.
Unsere Waffe ist der leichte Säbel. Augenblicklich lerne ich deshalb von der Kameradschaft aus kostenlos Fechten. Es ist das der einzige Sport, der mir ausser Schwimmen noch Spass macht. Scheuble und Schommers gehen aus dem Grunde nicht in eine Kameradschaft und sind entsetzt, dass ich entgegen den Geboten der heiligen römischen Kirche wage, einer solchen Verbindung beizutreten. Auch Onkel Jupp hat mir am letzten Abend in Brühl noch einen längeren Vortrag darüber gehalten. Ich solle doch einem nichtschlagenden Verein beitreten. Wahrscheinlich meinte er den Katholischen Jungmännerverein.
So, nun schreib’ mir mal was Du davon hälst!
Auf deinen Brief hin, habe ich mir gestern „Das Reich“ gekauft. Ich muss sagen, die Zeitschrift ist wirklich in Ordnung. Die ist wirklich 30 Pf. wert.
Vorige Woche bin ich auch Geselle in der „Bauhütte zum weissen Blatt“ geworden. Sie ist wirklich eine Art freimaurerischer Verbindung, wie ich aus ihrer Geschichte ersehe. Bekanntlich haben sich im 18. Jahrhundert aus solchen Steinmetz- und Architektenverbindungen die Freimaurerlogen in der heutigen Form entwickelt. Unsere „Loge“ ist schon im 16. Jahrhundert gegründet worden und hat sich in der ursprünglichen Form bis heute gehalten. Auch wir tragen ein Abzeichen, dass Richtscheit und Zirkel zeigt.
In Hannover ist sonst alles beim alten. Von Krieg merkt man fast nichts. 3 x mal haben wir erst Fliegeralarm gehabt. Das erste mal haben die Biester hier ziemlich viel fallen gelassen z. T. mit Erfolg. Das zweite Mal haben wir nichts von Fliegern hören können. Und das dritte Mal, vorgestern, sind sie nur in grosser