Günther Roos an Bruder Gustav, 16. September 1939
Brühl, 16.9.1939
Lieber Gustav!
Haben gestern Deinen Brief erhalten. Ich habe mir den Brief mal ausnahmsweise,-denn sonst habe ich für Dein Geschreibsel nicht viel übrig,- gut durchgelesen, d.h. ich habe zwischen den Zeilen gelesen, also das, was sonst Mutter so gerne tut. Das Ergebnis: Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, daß Du dir einen zuviel hinter die Binde gegossen hattest. Denn woher hättest Du sonst den „Moralischen“ bekommen? Also: Gustav, Gustav! Bessre Dich! Ich gebe Dir mal einen guten Rat: Spare das Geld und bringe es auf die Sparkasse. Wenn Du dann groß bist, kannst Du dir eine Wirtschaft kaufen und dann kannst Du soviel saufen, daß Dir die Socken platzen.
Jetzt kommt das nächste und traurigste Thema: Der Mädchenschreck von Brühl, Paul Braukmann, hatte nach langer, schwerer Arbeit 20 RM verdient. Er dachte nun könnte er die Ferien so gemütlich wie möglich gestalten, aber, gedrissen, mein Herzchen! Als er in den schönsten Träumen schwelgte, da rief das Vaterland, und Paul folgte freudig seinem Ruf. Er muß nun jeden Abend nach Köln fahren mit dem Rad. Er hat bei der Kreisleitung von 0 bis 8 Uhr Bereitschaftsdienst. Er ist ja sooo froh, daß man ihm soviel Vertrauen schenkt. Da wir gerade von Bereitschaftsdienst sprechen, muß ich Dir zu deiner Freude und meinem Schmerz mit-teilen, daß auch ich solch einen Posten hatte. Als ich allerdings zum zweitenmal kommen sollte, da war die Wache aufgelöst.
Wie Du vielleicht schon wissen wirst, war Mutter krank. Heute kann ich Dir nun mitteilen, daß es mir nicht besser geht. Seit gestern liege ich im Bett und krümme mich wie ein Wurm. Um Dir nun den Ernst meiner Krankheit zu zeigen, will ich Dir folgende wahre Geschichte erzählen.
Ort der Handlung; Brühl/Köln, Kurfürstenstraße 1, II. Etage, Schlafzimmer neben dem W.C.
Mitwirkende: Günther Roos, Frau Weiter und zwei klirrende Fensterscheiben .
Musikalische Begleitung: Das Paukenorchester der schweren Artellerie Nr. 1, Brühl.
Die Handlung beginnt: Ich liege im Bett und wimmere: „Oh, wie tut mir alles weh, vom Schädel bis zum dicken Zeh!“ Da, plötzlich ein Rumoren im Bauch. Er schwillt an, wird dicker und dicker. Picards Stratosphärenballon hätte dagegen
noch gerade so gereicht um auf der Kirmes verkauft werden zu können. Uns dann ging es los. Das ganze Orchester paukte auf einmal los. Alle bösen Geister werden frei, d.h. die Gase hatten einen Ausgang gefunden. Also, Gustav, so einen Furz hast Du noch nicht gehört noch gerochen. Das Vieh wäre nicht auf eine Pferdekarre gegangen. Man hätte hier sagen können: 10.000 in einem. Jetzt kommen nun die anderen Mitwirkenden auf die Bühne. Zuerst die klirrenden Fenster scheiben. Die tun nun ihr Möglichstes. Dann tritt Frau Weiter auf. Sie brüllt: „Frau Roos, Frau Roos!“ Nun tritt Frau Roos auf: „Ja, Frau Weiter?“
Frau Welter: „Köln wird von den Franzosen beschossen!!“
Frau Roos: „Wie kommen Sie denn darauf?“
Frau Welter: „Ja, mein Gott, haben Sie denn gerade den Schuß nicht gehört? Bei mir haben die Fensterscheiben gezittert!“ (Ich hatte ja schon vorher erwähnt, daß sie (nämlich die Fensterscheiben) ihr Letztes hergegeben hatten.)
Als man mich nun fragte, ob ich die Kanonen hörte, stellte sich dann heraus, daß der Kanonenschlag ein Prachtexemplar von einem Furz gewesen war. Es dauerte nun nicht lange, und der Bauch schwellte wieder an. Als nun der Furz (diesmal waren es bloß 1.000 in einem) raus war, da kam die Katastrophe, nämlich Schlamm. Bis zur Decke spritzte die gute Mutter Erde. Wie im Weltkrieg schlugen die Erdmassen um mich herum ein. Als der Erdregen aufhörte, ging ich zum W.C. Aber oh Schreck! Bis zum Hals mußte ich durch nasse, feuchte Erde waten. Es war schrecklich! Laß mich aufhören von diesem traurigen Thema zu schreiben, denn sonst muß ich weinen.
Am Montag beginnt wieder die Schule. Doof und Pitz kommen wieder. Das wird heiter! Jetzt aber Schluß! 10.000 Grüße und
Heil Hitler!
Günther
P.S. Hast Du schon einen Brief von Deiner Freundin bekommen? Ich habe ihr deine Adresse genannt.