Günther Roos an Vater Toni, 19. November 1944

O.U., den 19.11.44

Lieber Vater!

Bekam heute Deinen zweiten Brief aus Denkingen, mit der Schilderung Deiner Reise. Also, ich kann Dir nur sagen, daß ich fast in die Hose gepinkelt habe vor Lachen. Du weißt ja, Schadenfreude ist die reinste Freude. Ich kann mir jedoch schon vorstellen, daß Reisen heute keine reine Freude ist. Es geht aber nichts über nette Reiseerlebnisse. In Denkingen scheint es Dir ja gut zu gefallen. Ich glaube, ich muß auch einmal dort hinkommen, wenn dort eine so nette „Nichte“ ist, Mache mir nur keine Dummheiten. Diese Mahnung scheint mir bei Dir angebrachter zu sein als bei mir.

Ja, lieber Oller, mir geht es noch immer tadellos. Zur Zeit, das heißt schon fast drei Wochen, liegen wir am Niederrhein in Ortsunterkunft. Die Quartiere sind sehr mäßig, allerdings sind wir von Kemme her stark verwöhnt. Ich habe hier vielleicht so einen Puff. Als ich beim Ortsbullen wegen Quartier war, empfahl er mir sehr eine Frau Hofacker. Er schilderte sie mir als junge, schlanke Witwe, deren Mann gefallen sei, als sehr sauber und ordentlich. Ich griff natürlich mit beiden Händen zu. Beschwingten Schrittes eilte ich zu meiner neuen Heimstätte. 0 Graus! Die junge Witwe war etwa 35 - 40 Jahre alt, und von der Figur einer Frommen Helene im Büßergewand. Als ich mein Zimmer sah, wußte ich genug. Am Fußende des Bettes stand ein Herr Jesus aus Gips, mindestens 50 kg Lebendgewicht, am Kopfende ein riesiges Holzkruzifix und ein Weihwasserkessel, den man gleich als Waschschüssel benutzen konnte. Wegen dem

Jesus hatte ich schon vor einigen Tagen einen riesigen Krach. Da der Sockel wurmstichig war mußte ich fürchten, daß mir dieses Fetisch einmal auf den Bauch fällt, und ich auf diese Weise einmal jammervoll ums Leben kommen könnte. Weiterhin war abends mein letzter Anblick und morgens mein erster Anblick jene gewisse Monumentalfigur. Nun faßte ich einen heroischen Entschluß, und stellte bewußten Jesus samt Sockel in den Kleiderschrank, wo er mein kostbares Leben nicht mehr bedrohen kann. Da an der Stelle die Wand beschädigt war, hing ich dort einen tadellosen großen Druck der „Bäuerlichen Venus“ von Sepp Hilz auf. Das Schauspiel hättest Du einmal erleben sollen! Hab ich eine Moralpredigt erhalten! Dabei schaute sie immer furchtsam zur Decke, ob nicht endlich ein Blitz herabkäme, um mich für meinen Frevel zu bestrafen. Katholisch ist man hier, da machst Du Dir keine Vorstellung! Die Frau Welter kann ich jetzt verstehen, denn hier sind sie alle so. Die Folge war, daß ich gleich zwei Verpflegungssätze tiefer gestellt wurde. Das kann mich aber jetzt nicht mehr erschüttern. Gestern haben wir ein Kalb geschlachtet, und so lebe ich fast nur von Fleisch. Zum Abendessen habe ich mir eben zwei riesige Schnitzel gebraten. Dazu eine Scheibe Weißbrot und danach zur besseren Verdauung einen Steinhäger. Danach konnte ich nicht mehr piep sagen. Ist ja auch nicht nötig. Hoffentlich bekommt mir das viele Fleisch bloß, daß ich nicht zu wild werde. Morgen wird nun nochmals ein Kalb in ein besseres Jenseits befördert. Auch das wird gut schmecken. Zur Zeit erhalten wir nämlich viel Vieh, das aus Holland evakuiert wird und abhanden kommt.

Das verschwindet dann unauffällig in der Feldküche. Du siehst, wir leben nicht schlecht. Wir stärken uns jetzt für den Einsatz. Wenn Du dann einmal etwas von einer Volks-Werfer-Brigade hörst, weißt Du, daß unser Bemühen von Erfolg war.

Zur Zeit bin ich in der nahe gelegenen Stadt in Zahnbehandlung. Stadt ist übrigens zu viel gesagt. Das einzig schöne ist der bekannte Dom, ein herrlicher Backsteinbau der Frühgotik, das Wahrzeichen des Niederrheins. Am besten haben mir die alten Fresken aus der gleichen Epoche gefallen. Beim Zahnarzt sind übrigens zwei sehr nette Assistentinnen. Nach der nächsten Behandlung werden wir mit dem Arzt, ein Oberstabsarzt aus Köln, eine kleine Nachfeier mit Sekt veranstalten. Der Vorteil ist, daß ich dann mit mehr Liebe behandelt werde.

Zur Zeit befinde ich mich stark in der Klemme, da ich heiraten muß bzw.soll. Diese Forderung wurde uns „Jünglingen“ vom Regimentskommandeur gestellt, um als gutes Vorbild den Leuten vorauszugehen. Bedingung ist eine kampfstarke Gruppe, d.h. mindestens 8 Jungen in die Welt zu setzen. Jetzt besteht nur noch die große Frage, wen man heiraten soll, und das ist ja schließlich entscheidend. Hier sind die Kühe schöner als die Mädchen, und Urlaub wird zu diesem Zweck nicht gewährt. Also bleiben wir ledig!

Nun aber genug von mir und noch einmal zu Dir. Warum hast Du mich damals eigentlich nicht in Kemme besucht? Hast Du den Brief, in dem ich Dir damals dies anbot, nicht erhalten? Ich hatte bestimmt mit Deinem Kommen gerechnet. Ich hatte aber nicht nochmals nachgefragt, da ja Mutter davon

keinen Wind bekommen sollte, um so herzzerreißende Abschiedsszenen zu vermeiden.

Dann habe ich noch eine Frage: Schreibe mir doch bitte einmal folgende Angaben: Wie nennt sich offiziell der Beruf den Du jetzt ausübst? In welcher Branche bist Du tätig? d.h. Hoch- oder Tiefbau, Landwirtschaft, Kleinhandel u.s.w. Bist Du Angestellten- oder Invalidenversicherungspflichtig? Also kurz und klein, Deine gesamten Berufsangaben. Neulich mußte ich nämlich einen Fragebogen vom Heeres-Personalamt ausfüllen, wo diese Angaben verlangt wurden. Konnte nur ein großes Fragezeichen - in Gedanken natürlich - einmalen. Wenn eine Rückfrage kommt, möchte ich dies nicht wiedertun müssen, da es für mich unangenehm wäre. Entweder lasse ich Dich schnell sterben, oder setze Dich ins Ministerium, oder lasse Dich bei der Wehrmacht verschwinden. Alles sind aber Behelfslösungen und also Scheiße. Also tue mal Deine Pflicht!

Nun aber genug für heute. Alles Gute und viele liebe Grüße.

Heil Hitler!
Günther

Hast Du schon jemals einen so langen Brief von mir erhalten? Du siehst ich bessere mich, und werde mir langsam der Pflichten, die ich als gehorsamer Sohn habe, bewußt.