Anna Schmitz an Sohn Rudolf, 1. Januar 1936
Köln-Dellbrück, 1.1.1936
Mein liebes Kind!
Ich kann Dir nun zum ersten Male nicht persönlich meine Glück + Segenswünsche aussprechen. Sie sind darum aber nicht weniger innig + herzlich. Möge der liebe Gott Dich segnen mit Gesundheit + frohem Mut! Mein Kind, was nur eine Mutter ihrem Einzigen wünschen kann, das möge Dir beschieden sein. In dieser Stunde, der ersten im neuen Jahre, sind unsere Gedanken doch vereint, trotzdem wir, Vater, Du und ich, alle getrennt sind! –
Bis kurz nach 12 war ich bei Oma, es war sehr gemütlich dort. Wir haben zusammen gesessen, Oma, Elli, Heinrich, Johanna + ich. Nußbaums waren schlafen gegangen. Heinrich hat um 12 noch mal die Kerzen am Baum angezündet! Dann bin ich zu unserm Heim gegangen; eben habe ich den Ambrosianischen Lobgesang gebetet und nun schreibe ich Dir in der ersten Stunde des Jahres 1936. Gelt, wir halten tapfer zusammen, mag kommen was will. Mit Gott und für Gott, dann geht es auch. Die Schlußandacht am Abend war sehr schön! Alles in strahlender Helle wie Weihnachten. Du denkst wohl noch daran. Auch ich! Weihnachten, es war zu schön! –
Habt Ihr dort auch ein wenig Sylvester gefeiert? Hattest Du noch etwas Vorrat zum Knabbern? Habt Ihr jetzt nicht so viel Dienst? Ich hatte gedacht, schon etwas von Dir zu hören; aber die Post ist wohl zu überlastet! Die ersten Tage waren sicher wieder etwas schwer, es dauert immer etwas, bis man wieder im Alltag ist! Auch ich habe Arbeit bekommen. Viel ist es ja nicht, mehr wie 5-6 Mk. habe ich diese Woche nicht. Aber, das ist ja schon so um diese Zeit. Ich habe aber auch noch
allerlei Besuch gehabt! Am Samstag waren Plantz hier. Richard kam um 9 ½ Uhr abends, Fr. Pl. schon am Nachmittag. Es war ganz gemütlich. Um Mitternacht sind sie erst gefahren. Es hatte ihnen gut gefallen hier. Wir hatten die Kerzen am Baum angezündet. (Gestern) Sonntag war T. Mal + Lieschen hier, auch zum Kaffee, auch einige gemütliche, fröhliche Stunden! Montag war Elli + Oma hier und abends kam Fr. Kirst, Anna aus Mülheim mit der kleinen Käthchen her; sie hat bei mir geschlafen und ist am Abend erst wieder abgefahren. Sie ist sehr krank; ich mag mich ja irren, aber ich glaube, sie wird nicht alt. Die ist auch sehr ernst und hat gar keinen Lebensmut mehr. Die armen Kinder. Und es fehlt da an allem. Sie müßte jetzt gut leben, aber wovon? So siehst Du, daß ich keine Langeweile habe, d. heißt: so viel Besuch ist auch nicht schön. Du bist mir doch der liebste + angenehmste, das muß ja natürlicherweise auch so sein! Rudolf, wir sind noch reich, wenn man so um sich schaut. Wir sind gesund und wir verstehen uns. Das ist der größte Reichtum. Fr. Bartz ist auch wieder krank, vor Ärger + Aufregung. Ihr machen die Mädchen viel Kummer. Sie ist aber auch zu schwach den Kindern gegenüber gewesen! Wie lange das noch gut geht? – Am 2ten Jan. zieht Heinr. um. Es wird ihm schwer. Er war heute Abend so ernst! Joh. wartet noch immer. Ist bei Euch dort auch so warmes Wetter. Der Schnee ist sicher verschwunden, was? Was sagte denn Dein Ully + der Polarstern? Kannten Sie Dich wieder? Doch sicher? Nun haben wir schon das neue Jahr. Es ist immer eine ernste Stunde, die Jahreswende! Doch, Rudolf, wir schauen mit Gottvertrauen in die Zukunft, alles wie Gott will!
Viele viele liebe Grüße und einen innigen Kuß,
immer
Deine treue Mutter.