Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 24. Dezember 1940
den 24.12.40
Lieber, lieber Harald!
Es ist halb sechs und ein paar Minuten habe ich zwischen Sturm und Bescherung. Lieber, Liebster, ich hätte Dich so gern hier. Es ist kein Weihnachten ohne Dich, und das Schönste fehlt. Ich habe alle Deine Geschenke auf dem kleinen Schreibtisch aufgebaut, das Bild lehnt an der Wand, und davor steht der Leuchterengel. Was magst Du jetzt tun? Ich vermisse Dich so, denn ich merke jetzt, dass mein Haupteifer, alles so schön wie möglich zu machen, Deinetwegen war. Ich mache alles genau so, und die Kinder sind voller Spannung. Aber ich weiß nicht recht, warum ich mich festlich mache, ich weiß jetzt, dass ich es immer Deinetwegen tat.
Vorhin fragte ich Ursel: "Wer kommt denn gleich?" Ich meinte, sie sage "das Christkind“, sie sagte aber "der Pappi". Heute abend, wenn alle im Bett sind, werde ich mir Dir plaudern, jetzt drängt alles zu sehr. Ach, und ich male mir immer aus, Du schelltest auf einmal an der Türe.
um ¼ vor 12.
Gleich ist der Heilige Abend vorbei, und eben haben mich die anderen verlassen. Ich hatte zwischendurch in Gedanken an Dich schöne und lange Briefe geschrieben und hatte Dir viel geschildert, aber nun nach dem Wein und dem betriebsamen Tag bin ich müde und weiß nicht mehr viel. Hansi kam eben nochmal schnell rein und gab mir einen Gutenachtkuss und flüsterte mir zu: "Damals, als wir allein waren, war´s doch schöner." Und das ist eigentlich die Quintessenz des Ganzen. Mit Dir war der Heilige Abend viel schöner, und am schönsten war immer noch die Bescherung zu zweit und der Schluss des Abends, wenn wir beide ganz allein zusammensaßen.
Sonst war der Abend festlich und schön wie immer, und vieles habe ich genauso gemacht, wie Du es sonst immer machtest. Der Jubel der Kinder war reizend. Helga und Heidi stürzten sich auf ihre Puppen, und Ursel ging immer nur rum und futterte aus allen Tellern die Schokolade raus .Und Klaus nagelte sofort mit seinem kleinen Hammerkasten. Und ich habe mich sehr intensiv mit den Kindern beschäftigt und habe jedes umsorgt, ausgezogen und ganz warm eingepackt. Dabei empfinde ich dann auch eine restlose Befriedigung, und in den Momenten habe ich dann auch ganze und volle Erfüllung gespürt. Aber trotzdem können mir die Kinder nie ganze Erfüllung sein ohne Dich. Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke, aber wenn ich bei den Kindern die Gebende und Selbstlose bin, bin ich bei Dir die Nehmende, Empfangende (nicht im materiellen Sinn), ich fühle mich irgendwie als Kind, das mit seinem Wohl und Wehe von Dir abhängig ist und dessen Schicksal Du vorschreibst. Und so ist es ja auch. Ach, ich möchte jetzt so gerne von Dir in den Arm genommen werden.
Von der Rede von Rudolf Hess habe ich nicht viel gehört. Erstens sprach er undeutlich, und dann war es auch erst
sieben Uhr, und alle Kinder waren noch im Zimmer. Und die dominierten. Aber ich habe im Sessel am Ofen gesessen und war die ganze Zeit in Gedanken bei Dir.
Jetzt schlägt die Uhr zwölf, und der Heilige Abend ist vorbei, wirklich und wahrhaftig vorbei ohne Dich. Das habe ich mir vorher einfach nicht vorstellen können, und wie wird es im nächsten Jahr sein?
Habe ich Dir schon den Baum geschildert? Er hat rote Kerzen, die hatten wir noch vom vorigen Jahr, und nur Lametta, silberne Kugeln, Tannenzapfen und große silberne Sterne.
Helga, das kleine Äffchen, hat es sehr gut getroffen. Weil sie ein Kleid nötig hatte, bekam sie von mir ein blaues Waschsamtkleid. Tante Hansi schenkte ihr nun noch ein reizendes Winterdirndl, und einen sehr schönen braunen Trainingsanzug mit Reißverschluss und braun-gelb-orange gestreiftem Rollkragen habe ich auch noch aufgetrieben..
Ich habe meine Kinder alle so lieb. Jedes ist so nett in seiner Eigenart. Für Ursel bin ich jetzt auch die Hauptperson geworden. Das fing schon an, als Maria noch da war, aber jetzt bin ich ihr Ein und Alles. Auch heute abend kam sie und setzte sich ganz still auf meinen Schoss und wollte dann gar nicht mehr weg.
Und Helga sagte: "Wie ich den Weihnachtsbaum brennen sah, dachte ich, ich muss doch arg für den Pappi beten.“ Und Heidi meint, Dir könnte gar nichts passieren, weil sie jeden Abend, wenn sie im Bett ist, ganz alleine leise für Dich betet. Ist das nicht niedlich?
Gute Nacht, Harald! Du schläfst wohl schon lange. Ich kuschele mich in Gedanken zu Dir, denn ich bin sehr müde,
Deine Lotti.
Hansi hat mir ein paar gerahmte Bilder geschenkt, die Großeltern Hechtle und die Ur-großmutter Fischer, die Hirschwirtin. Jetzt kann ich mit Deinen Vorfahren zusammen eine ganze Ahnengalerie aufmachen. Ich bin eigentlich immer bei Dir.