Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 8. November 1942

den 8.11.42

Liebster Mann!

Aus dieser Sonntagsmorgenstimmung heraus muss ich Dir schreiben. Ich sitze im Sessel an Biedermeierzimmerfenster, draußen scheint die Sonne auf Päda und kahle Bäume, und im Radio ist schöne alte Musik. Ich war heute morgen beim Aufwachen so erwartungsvoll, als ob heute noch etwas Schönes passieren müsste, das mit Dir zusammenhängt. Da das aber nur die Post sein konnte und die mir nichts gebracht hat, war das eben eine Täuschung. Aber trotzdem bleibt heute das schöne und erwartungsvolle Gefühl.

Die Kinder sind heute so hübsch und sonntäglich und marschieren gleich in den Kindergottesdienst. Aber vorläufig finden sie anscheinend noch alles Heil der Erde um mich herum. Ich kann und kann sie noch und noch aus dem Zimmer schmeißen, sie kommen durch die andere Türe wieder rein und rekeln sich um meinen Sessel rum. Also wird auch dieser Brief wieder mit den üblichen Unterbrechungen geschrieben. Ich glaube, Jürgen wird Dir Spaß machen. Er ist ein ganz reizender Junge geworden. Das Bildchen hat Frau Foegen gemacht. Findest Du nicht, dass Helga darauf enorm groß aussieht? Ich bekam heute eine Karte von meiner Tochter. Sie hat auch die Notenhefte mit und wird nun auch Tante Trude mit dem Fuchs, der die Gans gestohlen hat, beglücken. Trude hatte sich von Fräulein Hunscheidt noch Anweisungen geben lassen, sie ist nämlich ihre beste Schulfreundin von früher. (Eben kommen wieder drei rein und müssen mir ihre Liebe auf etwas angreifende Art zeigen. Jürgen beschäftigt sich währenddessen mit der Maschine.)

Na, ich lasse das Schreiben, die Kinder sind zu süß, und ich muss mich ganz mit ihnen beschäftigen.

Nach Tisch

Heute nachmittag muss ich die Kinder hüten. Lisbeth hat ihren freien Nachmittag, und die Omis sind im Film. Vorläufig habe ich aber noch Ruhe. Jürgen schläft, und die anderen sind bei Siefkens. Bloß Ursel ist bei mir. Sie hat schon ein paar Tage "Kampf auf Brigitte“, und das erlaubt beiden natürlich nicht, miteinander zu spielen, trotzdem sie sich in aller Freundschaft unterhalten und auch zusammen im Kindergarten auf einem Stuhl sitzen und dort unzertrennlich sind. Überhaupt hat irgendeins immer "Kampf auf jemand".

den 9.11.42

Ich hatte den Kindern heute abend eine Überraschung versprochen, und sie ist mir hundertprozentig gelungen. Ich sah auf dem Kalender, dass heute Martinstag ist und hatte jedem zum Abendessen einen großen Weckmann gebacken. Das Geschrei hättest Du bloß hören sollen, als die vier dicken Männer da lagen. Dem einen standen buchstäblich die Augen vorm Kopf, sie waren ihm vom Backen herausgetrieben worden. An übermäßiger Schönheit litten sie alle nicht.

Harald, Du glaubst nicht, wieviel Freude mir das Leben mit den Kindern macht. Ich sehe auch darin meine Hauptaufgabe und nicht in der Überwachung der streitbaren Mieter. Und jetzt, wo die Kinderseelchen erwachen und zu jungen Menschen werden, ist es gut, dass ich nicht nur als Geschäftsfrau aufgeschlissen werde (so schön auch das Arbeiten mit Dir war). Aber es ist auch eine volle Arbeit, fünf Kinder aufzuziehen, wenn nicht nur körperlich für sie gesorgt werden soll, sondern wenn auch jedes Kind in seiner Eigenart erfasst werden will.

Und wenn einen Krieg und alle Dinge, die damit zusammenhängen, zu sehr bedrücken, findet man in der Kinderstube immer wieder die ganz primitive Lebensfreude wieder. Unsere fünf schönen, gesunden und intelligenten Kinder. Es ist doch ein großer Reichtum. Aber ich weiß jetzt auch, wie unendlich wichtig es ist, gerade als Mutter von ausgesprochenen Sorgen, die man nicht allein bewältigen kann, freigehalten zu werden, denn die erfassen einen so ganz, dass man nur zu den notwendigsten Arbeiten fähig ist und unfähig, seelische Kraft an das Mitleben mit seinen Kindern zu verwenden.

den 10.11.42

Ich muss jetzt dafür sorgen, dass der Brief in den Kasten kommt. Ich freue mich so sehr auf Dein Kommen, Harald, dass es mir ganz weihnachtlich zumut wird, wenn ich bloß daran denke. Weißt Du, das Gefühl, dass der Krieg vielleicht noch sehr lange dauern wird, lässt einen noch viel mehr auf den Urlaub warten. Und darum kämpfe ich auch darum, dass uns sehr viel Zeit ganz allein gehört.

Wie wird es wohl in Afrika werden? Rommel kommt ja auf diese Weise in eine Falle zwischen Engländer und Amerikaner? Goldi Koch, der augenblicklich auf Urlaub ist (er war ja Stukaflieger und war am Kopf verwundet) soll jetzt, wenn er zurückkommt, nach Afrika kommen. Frau Arndt hat ebenfalls Sorge um ihren Jungen, der auch da unten ist.

Hansel tritt am ersten Januar ihre Stelle in Ostrowo an. Es treibt sie scheinbar immer weiter nach dem Osten. Sie möchte, dass die Mu dann zu ihr zieht, aber die will nicht! Und dann, Pappi, soll ich Dir ein Weihnachtspaket schicken? Dann muss ich aber Marken haben. Ab heute ist bis auf weiteres jede Sendung über 20 Gramm feldpostmarkenpflichtig.

Viele Küsse
Deine Lotti.