Harald Endemann an seine Frau Charlotte, 3. Oktober 1942

Stade, den 3. Oktober 42

Mein liebes Lottenkind,

ich hoffe, dass ich heute Abend mal dazu komme, Dir einen vernünftigen zusammenhängenden Brief zu schreiben. Weil heute Samstag ist, ist fast alles an Land und so hoffe ich, dass ich in Ruhe gelassen werde.

Nach Deinen letzten lieben Briefen habe ich richtig wieder das Bedürfnis mit Dir zu erzählen. Ich war doch ziemlich verkrätzt (in der letzten Zeit. Ich habe mich über Gott und die Welt geärgert und wusste doch keinen plausibelen Grund dafür. Ich hatte immer eine verhaltene Wut im Bauch und bin nur froh, dass kein Funken kam, der mich zur Explosion gebracht hätte. Jetzt amüsiere ich mich über mich selbst und betrachte mich als einen komischen Kauz.

Der Abschied von Jever ist mir gar nicht so leicht geworden. Besonders als ich am letzten Abend nach Carels ging und das nette Häuschen so vor mir in den Wiesen liegen sah, wurde mir in Gedanken an die schöne Zeit mit Dir ganz wehmütig im Sinn. Es ist überhaupt komisch, dass ich mich beinahe überall, wo ich als Soldat war, nach einiger Zeit des Einlebens wohlgefühlt habe, soweit man sich fern vom häuslichen Herd überhaupt wohl fühlen kann. So ging es in Reinsehlen, in Amsterdam, in Bergen, so ging es besonders in Husum, dann wieder in Wangerooge und jetzt wieder in Jever und wenn nicht alles täuscht wird es in Stade nicht anders sein.

Unser Gefechtsstand, ein ganz großer und moderner, liegt auf dem Schwarzen Berg, einem jener bewaldeten sanften Hügel, die sich hier westlich der Elbe in ganz sanften Schwingungen hinziehen. Der Blick ist weit in wunderschönes von Waldstreifen, Dörfern und Flüsschen durchzogenen Wiesenland. Ein Bild schönsten Friedens. Von einer Terrasse des Berges sehe ich nah unter mir in Wiesen und Bäume eingehüllt das alte hübsche Städtchen Stade mit seinen schönen Patinatürmen. Es ist ein wunderhübsches Bild beschaulicher Art. Mitten in dieser ausgeglichenen Landschaft wühlen nun plötzlich große Bagger, fauchen Feldbahnlokomotiven, liegen große Erdhaufen, rattern Betonmaschinen und quälen sich Lastautos über ausgefahrene Feldwege. Großbaustelle, die die friedliche Landschaft aufreißt. Sie wirkt wie eine Wunde. Wenn es regnet, verwandelt sich alles in schlüpfrigen Brei. Halb fertige Baracken vervollständigen diesen Missklang. Diese halbfertigen Baracken mit vielen anderen halbfertigen ist nun mein Platz. Ein Blick in das weite Land tröstet aber über alles hinweg.

Bei Carels habe ich am letzten Abend noch einmal gegessen und eine

 

ganze Tasche voll herrlicher Bürden mitbekommen. Carels hatten am Tage zuvor Krach gehabt und Herr Carels hatte sich daraufhin für die Verwendung bei der Post im Osten gemeldet. Es tat ihm aber schon leid. Schreibt ihnen doch mal eine Postkarte. Sie mögen Dich sehr gut leiden.

Es war gut, daß ich in Jever noch einige Tage bleiben konnte. Wenn sie auch nicht gerade ruhig verliefen, so war doch nicht die Hetze, wie in der voraufgegangenen Zeit. Die letzten Tage vor dem Abmarsch des großen Haufen waren, wie Du Dir denken kannst, fürchterlich. Hier ist die erste Zeit natürlich auch Großeinsatz, aber das wird wohl langsam abflauen. Es wird frisch drauflos organisiert, wenn sich dann herausstellt, daß alles Kappes ist, wird es wieder umgeschmissen. Beim letzten Angriff auf W´haven müssen Stoltenhoffs auch was mitbekommen haben. Die Garnisonskirche ist schwer beschädigt (wir haben sie ja noch besichtigt) und die große Postbaracke im Park ist ganz hin.

Daß Du so gut es gehen will, tapfer einmachen, freut mich sehr. Ihr müsst ja auch im Keller Platz machen für die Kartoffeln, denn so viel haben wir noch nie eingekerkert. Bitte doch Hüllen, daß er ein paar Bund Stroh mitliefert, damit die Erpel (= rhein. für Erdäpfel, Kartoffeln) nicht auf den Zementboden liegen. Ich las in der Zeitung, daß die Kartoffeln in diesem Jahre dazu neigen zu faulen und daß man mit dünner Einpuderung mit gebranntem Kalk vorbeugen solle. Auf alle Fälle müssen sie gut ausgelesen werden. Für den Vorgarten habe ich noch einen Wunsch. Kaufe doch bitte bei Gammler 3 oder 4 Horste Polsterprimeln und setze (Text: setzt) 2 mit verschiedenen Farben auf das Bild vor dem Hause die beiden anderen auf das schmale Beet entlang des Mäuerchens. Das muß in diesem Monat geschehen. Ende des Monats müssten dann auch schon die Stiefmütterchen auf das lange Beet gesetzt werden. Sie werden dann viel schöner, als wenn sie erst im Frühling gesetzt werden.

Hier in Stade scheint es etwas Obst zu geben. Es wäre schön, wenn ich an Stelle der Milch hier etwas Obst bekommen könnte, damit war es ja in Jever nichts, wenn ich von den Carelsschen Birnen absehe. Schade das ich nicht mehr Zeit hatte hinzugehen, sonst hätte ich sicherlich noch mehr bekommen.

Du fragst, wie es mit dem Krieg stände und ich will Dir meine Meinung schreiben, auch wenn sie nicht ganz rosig klingt. Mit Stalingrad wird es wohl noch klappen, obgleich die russische Verteidigung sehr zäh und unser Angriff dadurch sehr verlustreich ist. Schlimmer sieht es m. E. im Kaukasus aus, wo wir unser Ziel wohl nicht mehr erreichen dürften, weil der Gebirgskamm jetzt schon verschneit ist und ohnehin kaum passierbar ist. Das bedeutet, daß der Russe, der Engländer und der Amerikaner Zeit bekommt hier eine Stellung zu schaffen, die uns später die

größten Schwierigkeiten machen wird. Die Entscheidung im nahen Osten wird dadurch unliebsamen verzögert, wenn sie überhaupt noch fällt. In Afrika wird es diesen Herbst und Winter wohl heiß hergehen. Es ist einer der Plätze, an denen wir den amerikanischen Druck am meisten spüren werden. Der große Kampf ums Mittelmeer wird entbrennen und sicher nicht leicht werden. Es kommt nun viel darauf an inwieweit der Japaner die Engländer und Amerikaner binden kann und wird. Auch er ist mit Tschungkingchina nicht fertig geworden. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß sich im nächsten Frühjahr deutlich zeigen wird, wohin der Karren läuft. Es sind im Augenblick fast alles von den weiteren Erfolgen unserer U-Boote ab, die hier allerdings überwältigend geworden sind. Ob ich nun doch auf einen Erholungsaufenthalt geschickt werde, ist sehr ungewiss geworden. Es ist auch schon ein bisschen spät im Jahr, trotzdem täte es mir sicher gut nach den schlimmen Wochen, die ich hinter mir habe. Na wir wollen mal sehen. Es wird so gefressen wie es kommt.

Es tut mir richtig leid, daß Du diesen Brief nicht morgen, am Sonntag auf dem Frühstückstisch liegen hast, denn meine letzten Briefe waren doch mal arg mager, weil ich einfach nur zum Allerwichtigsten Zeit hatte. Ich habe hier auch Deinen Brief mit dem niedlichen Bild von Jürgen und den mit den Fett- und Fleischmarken vorgefunden. Hab für allesherzlichsten Dank. Ich will mal sehen, ob ich hier was dafür bekomme. Stade konnte ich mir natürlich noch nicht ansehen. Aber was ich auf dem Weg von der Eisenbahn zum Gefechtsstand sah, war recht hübsch. Die Elbe liegt noch ein Stück ab, aber trotzdem soll Stade einen kleinen Hafen haben. Hoffentlich kann ich bald mal auf Entdeckungsfahrt gehen.

Ich liege jetzt mit weiteren 9 Mann zusammen auf einer Bude, darunter Lichtschlag und Abel. Hier ist noch ein weiterer netter Kamerad namens Gunkel. Denk Dir mal, dem haben sie, weil er mal in der Absicht, eine tolle Schiebung eines Offiziers aufzudecken, eine Meldung gemacht hat, 3 Monate Gefängnis wegen übler Nachrede verpasst. Nun ist er an der Menschheit fast verzweifelt und trägt schwer an der Strafe. Es ist doch scheußlich. Wer den Finger auf die Wunde legt, wird kaltblütig unschädlich gemacht. Der Verlag so, daß ein Bauer andauernd Urlaub bekam, weil er seinem Hauptmann fleißig Hühner, Enten und Gänsen neben anderen Sachen mitbrachte. Bei der Verhandlung stellte es sich dann herraus, daß der arme angeschuldigte Hauptmann gar keine Ahnung gehabt hatte, woher die leckeren Braten auf seinem Tische kamen und das selbstverständlich der Urlaub in gar keinem Zusammenhang mit den Lieferungen gestanden hat. Die Unschuldvollen Engel!

Ich habe also wieder jemanden zu bemutttern.

Da hätte ich beinahe vergessen zu schreiben, daß ich tatsächlich Ober-

gefretier geworden bin, wie Hinz und Kunz nach 2-jähriger Dienstzeit. Es ist doch eine Blamage. Wilhelm Lichtschlag ist es genau so ergangen und wir haben obendrein noch eine Feier veranstallten müssen, sonst hätten uns die Kameraden gesteinigt. Meine alten Pfadfinder laufen längst als Oberleutnante herum und werden bald Hauptleute sein, die Hitlerjungen aus der Kapelle, denen ich das Schießen und exerzieren beigebracht habe, sind Leutnants und ihr ehemaliger Führer hat es bereits zum Obergefreiten gebracht. Es ist zum Kotzen und schwer, die Lust nicht zu verlieren. Da wird man Gelobt und macht schon fast ein Jahr lang Dienst in einer Stelle, die eine Unteroffiziersstelle ist und für die die meisten Unteroffiziere zu dumm sind, aber daß man zum Uffz. befördert wird, das kommt garnicht in Frage. Ich tendiere mich fast Weihnachten nach Hause zu kommen. Soll ich übrigens Weihnachten oder Neujahr kommen, was meinst Du? Ich nehme doch an, daß ich dann als kinderreicher Pappa wieder dran bin.

Was Du mir von den Kindern schreibst, hat mich wieder sehr interessiert und gefreut. Also Helga hat das Zeug zu einer tüchtigen Klavierspielerin, das ist ja fein, nun mußt Du sie bei Lust und Laune halten, was – schätze ich – nicht so ganz leicht sein dürfte, denn ich kenne doch mein Döchting. Kannst Du mir auf den Trichter helfen, was ich dir guten Heidi ( zum Geburtstg 18.10) schenken kann. Mir fällt gar nichts ein. Der Klaus war er immer so ein stiller, aber ob es sich mal durchsetzen wird, ist mir noch zweifelhaft. Daß Ursel für ihren Streich und die Lüge rein mit dem Kindergarten die Jacke voll gehauen bekommen hat, ist nicht mehr wie recht. Sie muß zeitig merken, daß sie mit sowas nicht landen kann. Mit dem kleinen Jürgen werden wir noch unsere Last haben, aber süß ist es doch was Du von ihm schreibst. Wir müssen sehen, daß wir seinen Tatendrang in richtige Bahnen leiten können.

Die Briefmarken, die ich beilege hebe mir bitte auf oder tue sie bei meine Sammlung. Die beiliegenden Mk. 20,- sind die 1. Rate auf die von Dir überwiesenen Mk. 50,- nach Varel. Schicke mir bitte mit dem nächsten Brief die Quittung von Deiner Einzahlung mit. Der Rest folgt in Kürze.

So nun habe ich mich mal richtig ausgequatscht, immer so gerade geschrieben, was mir in den Sinn kam.

So, nun bekommen noch alle der Reihe nach ein liebes Küsschen bis zur Omi. Liesbeth muß sich mit Grüßen begnügen und Du bekommst viele, viele Recht liebe und innigen Küsse von Deinem

Harald