Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 16. Oktober 1943

den 16.10.43

Liebster Mann!

Heute kriegst Du einen Brief am Sonntagmorgen geschrieben, jawohl, Sonntagmorgen. Ich habe alle Kinder fortgebracht, dahin, wohin sie gehören und mir dabei vorgenommen, dass Du endlich wieder einen richtigen langen Brief kriegen sollst. Er sollte die beiden letzten Abende schon geschrieben werden, aber wenn andere sich unterhalten, geht’s nicht. Und Briefschulden habe ich, dass mir ganz flau wird. Ich habe mir aber vorgenommen, in den nächsten Tagen jeden Tag zwei zu erledigen, damit der Berg von meiner Seele kommt. Aber jedes Mal, wenn ich die Wahl zwischen Stopfkorb und Briefeschreiben habe, fällt die Entscheidung auf den Stopfkorb, weniger aus Pflichtbewusstsein als weil ich mir ein Spiel ausgedacht habe: Ich will doch mal sehen, ob es mir nicht gelingt, den Stopfkorb von seinem Turm zu befreien, damit er auch mal ordentlich da steht. Diesen Kampf kämpfe ich nun seit vierzehn Tagen unentwegt, aber jedes Mal, wenn ich fünf Sachen runtergestopft habe, kommt Lisbeth und legt sieben wieder drauf. Aber noch gebe ich das Spiel nicht verloren. Diese Tour kriege ich jedes Vierteljahr mal, zum Schluss sehe ich mir diesen ollen Korb dann vierzehn Tage nicht mehr an. Ich kenne das, er siegt ja doch.

Übrigens: Ihr Hessen habt doch einen Dichter: Wilhelm Schäfer, der in den Literaturbüchern als Rheinländer geführt wird (in Düsseldorf geboren). Ich habe gestern ein Buch von ihm gelesen: Meine Eltern. Beide Eltern sind Bauern aus der Schwalm, Berfa und Ottrau zwischen Alsfeld und Ziegenhain, blos sie kamen sehr früh nach Gerresheim bei Düsseldorf, wo er dann auch geboren und aufgewachsen ist. Ich bringe das Buch gleich Mutter ins Krankenhaus, dies wird sich bestimmt darüber freuen. Das Buch hat mir gut gefallen, es sind einige sehr gute psychologische Bemerkungen darin. Abgesehen davon: In Hessen möchte ich wohnen, in irgendeiner dieser kleinen Städte oder auch in Kassel, weil es noch keine Großstadt ist wie die landläufigen, sondern immer noch was von Residenz und Land bewahrt hat, finde ich.

Es ist schade, dass man mit seinen Zukunftsplänen so ganz in der Luft hängt und überhaupt nicht weiß, wohin der Wage mit der großen Familie

läuft. Denn irgendwann wird dieser Krieg, der ja jetzt in seinem fünften Jahre ist , aufhören, und der längste Teil wird dabei wohl schon hinter uns liegen, so dass es doch an der Zeit ist, sich um das persönliche Leben Gedanken zu machen. Vielmehr, es wäre an der Zeit; aber es ist unmöglich. Etwas Positives ist da: In vierzehn Tagen haben wir November und dann kannst Du Vielleicht Deinen zweitägigen Urlaub einreichen.

Eigentlich muss ich mir jetzt auch schon Weihnachtsgeschenke für die Kinder überlegen. (Eben kommt die Briefträgerin. Ist was von Dir dabei?) Ja sie war dabei, mein, Schülls und v. Schwarzes Briefe und als Hauptsache Deiner, nach dem ich zuerst sehe. Ich bin überzeugt, dass die Sache Hackl-Hecker trotz der Entfernung nicht ihr Ende gefunden hat, denn schliesslich gibt es auch noch eine Post. Ebenso finde ich, dass nicht alle Schuld auf das Mädchen geschoben werden soll, denn schliesslich ist er verheiratet und wird auch die Leitung dieser ganzen Herzensangelegenheit in der Hand gehabt haben, denn ich kann mir nicht denken, dass der arme unschuldige Kleine von Fräulein Hecker verführt worden ist. Hoffentlich hat der Kommodore auch Hackl Bescheid geswagt, aber er ist schliesslich auch ein Mann.

Morgen feiern wir nun Heidis Geburtstag. Es ist dann zwar erst der siebzehnte, aber ein Sonntag, und da entweder Helga oder Heidi abwechselnd nachmittags Schule haben (im kleinen Schulhaus ist die Heizung kaputt), passt es so besser. Was überhaupt das Lernen betrifft, sind unsere Kinder zu beneiden oder zu bedauern, je nachdem von ihrem oder unserem Standpunkt aus. Nicht dass allein die Stunden weniger geworden sind, weil die Räume zusammengelegt worden sind, so fallen jetzt auch jeden Tag durch Voralarm oder Vollalarm fast alle Schulstunden aus. Vorgestern setzte der Alarm um halb zwei ein und hörte um 10 nach vier auf. Da Heidi bis halb fünf Schule hatte, war es wieder mal Essig damit. '

Ich sah übrigens einen Abschuss. Der Bomber war über dem Siebengebirge abgeschossen worden und kam im Hof der Burg Adendorf runter, ohne Unheil anzurichten. Ich sah die lange Rauchspur, die er hinter sich herzog. Helga kann sowas nicht sehen. Sie sieht die Sache von beiden Seiten, denkt an die, die oben in dem Flugzeug sitzen und macht sich Gedanken darüber, dass die Engländer und die Amerikaner in Wirklichkeit wohl nicht schlechter wären wie wir und kommt, wenn ich meine, wir seien vielleicht im Recht, mit der Gegenfrage, wie ich das wohl wissen will, das sei doch nur eine Annahme von uns und die Engländer stellten von sich aus wohl auch die Behauptung auf.

Sag, Pappi, dass ich nun keinen neuen Winterhut kriegen soll,

stört mich doch. Ich habe mir nun gestern eine endgültige Absage geholt. Winterhüte gibt es nur für Fliegergeschädigte. Hätte ich doch voriges Jahr nicht den Sparfimmel gerade beim Hut bewiesen! Ich wollte auch nichts sagen, wenn er nicht immer kleiner und schäbiger würde. Nun bleibt nur übrig ohne Huzt zu gehen oder bei schlechtem Wetter diesen zu tragen.

Mutter kommt Anfang nächster Woche wieder nach Hause. Ich musste ihr gestern ihr bestes Nachthemd bringen, das sie bis jetzt im Keller aufbewahrt hatte mit der ausdrücklichen Weisung, dass das ihr Sterbehemd sei. Ich sagte ihr nun gestern nebenbei: Der Volksmund sagt ja, wer in solchem Alter noch solche Krankheit übersteht, lebt noch lange.

Das hat ihr nun so gepasst, dass sie ganz glücklich nun das Hemd verlangt, weil sie es vorerst doch nicht brauchen wird und sich über die späteren Jahre keine Gedanken macht. Dabei merkte ich auch, dass sie, obwohl sie sich jede Woche einmal nach dem Himmel sehnt, sehr gestört war durch den Gedanken, dass ihr Herz ihr plötzlich mal einen Strich durch ihre Lebensrechnung machen könnte. Nun glaubt sie selber, dass ihr vorläufig nichts mehr passieren kann, und ihr ist ein Stein von der Seele geplumpst.

Jetzt muss ich für heute wirklich Schluss machen, und einen anderen Brief kann ich heute morgen auch nicht mehr schreiben. Dieser ist reichlich lang geworden und trotzdem ist er bloß ein Surrogat.

Kannst Du nicht mal von dort aus an Regierungsrat Knapp schrei9ben, dass er die Pacht einzahlen möchte, da es vorderhand nicht möglich sei, mit Dir zusammenzutreffen?

Rau und Mathieu haben noch nicht von sich hören lasse. Hoffentlich ist der Brief damals nicht gerade in den Angriff reingekommen. Zeitlich stimmte es nämlich.

1000 liebe Küsse.Deine Lotti.