Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 27. Februar 1945

den 27.2.45

Mein lieber Mann!

Heute morgen hatte ich Dir einen Brief geschrieben, hier liegt er neben mir, aber ich schicke ihn lieber nicht ab. Weißt Du, das war ein Brief, so mitten aus der Stimmung der Angst und Sorge heraus geschrieben, wie wir sie als Dauerzustand haben: Die Front so nahe, die Jabos über uns, der Mangel an Essen, die Unsicherheit der nächsten Zukunft, die ganz große Frage, wo das hinaus soll und wie man sich das Ende überhaupt vorstellen soll. Und da hatte ich mir auf zwei Seiten so richtig alles vom Herzen geschrieben, und nun, wie ich den Brief weiterschreiben will, mag ich ihn nicht abschicken.

Heute abend bin ich nun nach langer Zeit entspannt, das Zimmer ist warm, Walter Gieseking spielt Schubert und Schumann, und von mir sind alle Sorgen abgefallen. Das geschieht ab und zu mal, höchstwahrscheinlich das Pendelgesetz. Ich werde auch versuchen, mich mit diesem direkt friedensmäßigen Gefühl zu Bett zu legen. Morgen früh wird es ja doch wieder anders sein.

Ich dachte heute auch so daran, dass es in diesem Monat 22 Jahre her sind, dass wir unsere ersten Spaziergänge machten durch die Godesberger Straßen. Und Du schenktest mir saure Bonbons. Jugend ist doch etwas herrlich Unbeschwertes, denn damals war auch schwere Zeit, Besatzungszeit sogar, und die Erwachsenen dachten überhaupt nichts anderes, kümmerten sich nur um die traurige Politik, um die traurigen Nachrichten, um das mangelhafte Essen, um das sinkende Geld, und wenn wir beide zurückdenken, meinten wir, es gab damals viel wichtigere Dinge, die erste Liebe, die Stimmungen für Natur, die man in diesem Alter ganz besonders entdeckt, und derlei Sachen. Das andere ging uns irgendwie nur an der Peripherie an, stand jedenfalls nicht im Mittelpunkt unserer Sorgen.

Ich habe jetzt zwei Hitlerjungens bei mir wohnen, zwei reizende, sechzehnjährige Jungens, und ich muss sagen, dass deren Unbeschwertheit unser Haus mit ansteckt. Sie schanzen hier, und im übrigen haben sie keine Sorgen. Wehrmachtbericht, politische Sorgen gehen an ihnen vorbei, alles Soldatische freut sie, dass der Feind bei Goch und Kalkar steht, spornt sie zu Plänen an, wie sie von hier Urlaub bekommen können, um nicht mehr wiederzukommen, denn sie wohnen in Mülheim an der Ruhr usw., aber weiter bedrückt sie das nicht. Sie haben den Kopf voll Schnurrpfeifereien.

Da wir nun wieder 5 zu 3 im Hause stehen (fünf Kinder, drei Erwachsene) und da meine Kinder das auch entsetzlich langweilt, immer nur von den 'dummen Kämpfen' zu hören, muss ich mich dabei wenigstens zusammenreißen.

Unter uns Erwachsenen gibt es natürlich nur eine Sorge. Nun hat sich seit einiger Zeit das Gerede von der Lazarettstadt verdichtet, und seit gestern hört man, dass die Bedingungen angenommen seien. Dass Verhandlungen im Gange sind, bestätigte mir Herr Voorthuysen und derlei verschiedene Leute, die keinen Quatsch reden. Fritz Frenking fragte ich heute, und der sagte mir, dass es offiziell auf dem Amt vorliege, aber dass er noch nichts Endgültiges wüsste. Ich hörte aber heute von anderer Seite, dass durch Funkspruch unsere Zustimmung zu den Bedingungen gekommen sei. Wäre das wahr, wäre es beinahe zu schön zu glauben. Es wäre dann ein bestimmter, fest umrissener Bezirk, zu dem wir dann auch gehörten. Es wären dann ein Drittel deutsche, zwei Drittel amerikanische, englische und französische

Ärzte hier. Das Schweizer Konsulat soll schon von Rhöndorf nach hier verlegt haben und bleiben sollten nur die Godesberger, alles, was in den letzten Jahre an Fliegergeschädigten zu-gezogen ist, müsste weg. Also, das sind Dinge, die man nur vom Hörensagen kennt, denn Du kannst Dir denken, wie uns diese Frage auf dem Herzen liegt. Für uns würde das bedeuten, dass wir auf jeden Fall hier bleiben könnten, wir wären zwar an den Ort gebunden, das würde aber weiter nicht stören. Sicher ist, dass mit Hochdruck neue Lazarette eingerichtet werden, für die die Luftschutzbetten aus den Kellern geholt werden. Es werden alles Feldlazarette, und da die Front so nahe ist, nehme ich anderseits nicht an, dass man die Lazarette so dicht hinter der Font erst einrichtet, denn das dauert doch einige Zeit, um sie sofort umkämpfen zu lassen. Immerhin tragen diese Nachrichten zu meiner heute abend so behaglichen Stimmung erheblich bei. Und ich sage ja, heute abend gehe ich mit dieser behaglichen Stimmung zu Bett, morgen kommen alle möglichen Sorgen schon wieder.

Immerhin kann es trotzdem sein, dass wir eines Tages Hals über Kopf hier raus müssen. Ein entsetzlicher Gedanke, aber wieviel Millionen müssen das machen. Dass Du mir so viel Erfreuliches von Helga und Ursel schriebst, war gut. Ich denke seitdem viel ruhiger an sie, trotzdem ich oft sehr große Sehnsucht nach ihnen habe. Mal ist es Helga, mal Ursel, von der ich meine, ich müsste sie unbedingt und sofort hier haben. Wie lange müssen sich Meyers noch mit ihnen plagen? Ob es nicht doch besser ist, Helga besucht wenigstens die Volksschule? Das Kind muss doch etwas lernen. Sollten wir hier eines Tages abgeschnitten sein, musst du den intensiven Briefwechsel mit Meyers führen. Hansis Adresse ist: Hansi Heuse, z.Zt. Dessau-Haideburg, Ginsterweg 22, bei Dr. Nitka. Das ist nämlich die Zweite, mit der Du korrespondieren kannst, um etwas über die Familie zu erfahren. Ob Thea noch in Stettin ist, wissen wir nicht. Sie schrieb am 5., dass sie weg wollte, aber nicht könne, weil alles versperrt sein. Heute schrieb mir Fritz Hechtle aus Schwäbisch Gmünd einen langen Brief. Seine Adresse ist Josefstraße 21. Für den Fall, dass Du auch Verbindung mit jemand aus meiner Familie aufnehmen willst. Vielleicht geht Thea auch nach Süddeutschland.

Ich hörte heute, dass die Amerikaner schon nach Köln hineinschießen. Überhaupt scheinen sie weitergekommen zu sein, als so der wehrmachtbericht, der ja unbestimmt nur von östlich Düren und Jülich spricht, sagt.

Ach, Harald, ich denke so viel an Dich, und jeden Abend, ehe ich das Licht ausknipse, sehe ich mir Dein Bild an. Ich habe die feste Hoffnung, dass wir uns nach dem Krieg wieder hier zusammenfinden werden. Bei Euch an der Front ist es ja unglaublich ruhig, aber sie wird wohl recht bald wieder in Bewegung kommen und das macht mir, wenn ich daran denke, sofort Unruhe, die Sorge um Dich. Es setzt die Fantasie ganz anders in Bewegung zu denken, was mit dem Anderen, den man lieb hat, geschehen könnte, als was man selber erleben und durchmachen müsste. Und bürdet einem eine große und unbestimmte Sorge auf. Weißt Du, ich denke dabei an eine Einkesselung oder Überrennung von Panzern Und Dir geht es dort genau so, Du sorgst Dich vielleicht um uns und augenblicklich vielleicht mit mehr Recht (wenn das mit der Lazarettstadt nicht wahr sein sollte).

Eben war in der Stunde des Soldaten eine sehr richtige Schilderung unseres Lebens im Westen. Es hieß da unter anderem: 'Das Leben der Frauen wird bestimmt von der Sorge um das Fett, den Kochtopf, von dem Heulen der Jabos, dem Ducken unter den Bomben, dem Auf und Ab zwischen Luftschutzkeller und Wohnung. Kein Junge, der nicht die Unterschiede zwischen einer Lightning, einer Thunderboy, einer Mustang und Marowder kennt.'

Unser Klaus ist ja auch schon Sachverständiger, und Jürgen tut es ihm nach. Ich wusste, bis vorgestern nicht, was eine Lightning ist, bis mein Sohn mich aufklärte. Sie hat irgendwie zwei Schwänze oder zwei Rümpfe oder zwei Tragflächen oder so. Für mich sahen alle Flugzeuge egal aus, Jäger und Bomber kann ich ja an der Schnelligkeit unterscheiden, aber weiter langt's nicht.

Ich habe mir heute den Familienunterhalt im Rathaus geholt Der linke Flügel mit der Stadt-kasse ist auch hin. Die rosa Villa ebenfalls. In den Godesberger Straße wird übrigens auch feste geschanzt, und gestern nacht ist der Volksturm einberufen worden.

Draußen ist die Luft milde, und die Vögel zwitschern in großer Menge wie in jedem Frühjahr. Jürgen liegt mit Fieber und einer Bronchitis zu Bett. Von allen Seiten und von Deinen Verwandten kommen jetzt die Fragen wegen des Terrorangriffs. Was eigentlich auffällt von den Angriffen sind die vielen zerbrochenen Fensterscheiben. Aber bis auf das große Loch in der Bahnhofstraße sind direkte Trümmer ja nicht zu sehen. Und dann ist von Fräulein Hunscheidt auch die letzte Spur vertilgt, ihre so sehr geliebten Sachen, Bücher und der große Flügel. Jetzt lebt sie nur noch in der Erinnerung und in dem seelischen Auftrieb, den sie mir heute noch geben kann, wenn ich mich an vieles erinnere.

Nun hast du ja wieder eine Menge zu lesen. Hoffentlich steht es um uns noch gut, wenn der Brief bei Dir eintrudelt.

Jetzt kommt Vaters Geburtstag und Todestag heran. Ich glaube nicht, dass wir zum Grab können. Alles vom Stadtinnern ab nach dem Kottenforst und Marienforst ist nicht als Spaziergang zu empfehlen. Der Kottenforst wird täglich hergenommen, und wir beobachten von hier aus die Anflüge, das Herunterkommen und das Bombenwerfen. Die Ecke am Rhein hier ist wie eine Oase.