Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 11. Mai 1943

den 11. Mai 43

Liebster Mann!

Heute morgen fing der Tag gut an, denn die Post brachte einen Brief von Dir, endlich wieder einen langen. Ich habe nun meine Arbeit heutemorgen so eingeteilt, dass ich Dir jetzt rasch antworte, denn für so einen langen Brief musst Du gleich Antwort bekommen.

Denk Dir, das Lied im Volkskonzert habe ich auch gehört und genau an dasselbe gedacht wie Du. Hätte ich an dem Tag einen Brief geschrieben, hätte ich das auch erwähnt. Wenn wir blos gewusst hätten, dass wir in dem Augenblick durch unsere gemeinsamen Gedanken ganz fest verbunden waren. ist das öfter so.

Wir frieren auch so. Die Kinder laufen alle mit Hängenasen herum. Taschentücher, die ich ihnen gebe, sind ja nie zur Stelle, und die Täschchen, in denen sie sie tragen sollen und die ich ihnen sorglich umhänge, sind trotzdem immer leer. Gottseidank sind es ja auch keine richtigen Taschentücher, sondern nur gerissene Lappen. Ich bin durch Schaden klug geworden.

Vorhin suchte ich Jürgen. Vor der Haustüre hörte ich schon sein Schreien oder vielmehr ahnte sein Schreien, und als ich über den Pädaplatz ging, verstärkte sich das Gebrüll und war unleugbar Jürgens. Zuerst wusste ich nicht, wo der Kerl steckte, aber aus dem Rektoratsgarten kam es. Da saß er dann in der Ecke in dem kleinen, verlassenen Bienenhaus oder was das ist, das Häuschen, das auf vier hohen Beinen steht, und brüllte, wie nur er brüllen kann, die Welt an. Manfred hatte ihn verhauen, und nun hatte er sich in seinem Kummer dorthin geflüchtet.

Klaus und Ursel haben keine guten Tage hinter sich. Weil sie sich nun mal nicht die Zeiten des Nachhausekommens merken können, habe ich ihnen jedes Mal etwas Essen entzogen. Gestern kamen sie auch erst wieder um drei aus dem Kindergarten, und Du hättest die Wut sehen sollen, mit der dann beide aufeinander losgingen.

Klaus und Ursel haben keine guten Tage hinter sich. Weil sie sich nun mal nicht die Zeiten des Nachhausekommens merken können, habe ich ihnen jedes Mal das Essen entzogen. Gestern kamen sie auch erst wieder um zwei aus dem Kindergarten und Du hättest die Wut sehen sollen, mit der dann Beide aufeinander losgingen und die aus ihrem Hunger geboren war. Jeder verhaute den anderen, weil der angeblich die Schuld trug, dass sie stromerten. Ich bin aber überzeugt, dass sie heute pünktlich vor der Haustüre stehen.

Wir frieren auch so wie Du. Heizen wollen wir nicht, weil

wir sowieso nächsten Winter nur 75 % der Kohlenmenge bekommen, und von der wird noch ein Abzug gemacht. Außerdem wird die Mu keine Kohlen mehr bekommen, weil laut einer Verfügung Verwandte, die für die Kriegsdauer zu ihren Angehörigen ziehen, keine eigenen Kohlen mehr bekommen. Na ja, das gehört eben alles zu diesem Krieg, und der muss durchgehalten werden, denn Becker hat Recht, man stelle sich bloß im anderen Falle vor, wie es werden wird, wenn wir die Russen und all den Kram im eigenen Land haben, und wie die dann hausen.

Bitte, Klaus und Ursel sind da, 10 Minuten nach zwölf!!! Es geht also!

Heute steht in der Zeitung, dass unsere Fleischrationen pro Woche und Person um 100 Gramm gekürzt werden. Das ist bitter. Dafür kriegen wir dann im Monat 50 Gr. Fett mehr und zusätzlich 500 Gramm Graupen. Was fange ich bloß mit so viel Graupen an, wo wir alle keine Graupensuppe mögen? Ich will mal versuchen, ob man die Graupen nicht wie Reis kochen kann, zur Abwechslung.

Ernst ist am Dienstag nach Ostern abgefahren, nach Antwerpen, von dort aus nach Toulon, und wird dann wohl von Sizilien aus eingesetzt, um die Truppen herüberzuholen. Auch ein Himmelfahrtskommando.

Pappi, ich habe endlich wieder Zigaretten bekommen und schicke Dir welche, weil Du so schön geschrieben hast. Die anderen rauche ich. Unsere versprochenen Süßigkeiten, die schon lange vor Ostern aufgerufen waren, werden scheinbar noch lange nicht zugeteilt, und nun ist die Zigarette für mich ein kleiner Trost.

Schmidt aus Ittenbach geht diese Woche an mein Kostüm. Vielleicht können wir dann gerade in Deinen Urlaub zur Anprobe, wenn aus diesem Urlaub was wird. An Hüllen schreibe ich auch. Zwiebeln und Pflaumen werde ich genau so wenig wie voriges Jahr bekommen, weil sie bewirtschaftet sind. Es ginge also nur hintenherum und erstens liegt mir das nicht, und zweitens müsste ich dann tolle Preise zahlen oder was anderes zu bieten haben, und beides kann ich nicht und will ich auch nicht.

Ach, liebster Pappi, wenn dieser Brief auch nur sachliche Dinge enthält, so habe ich doch wieder allerlei schreiben können, weil ich durch Deinen Brief wusste, wo ich einzusetzen habe. Wenn ich auch weiss, dass Du Dich überjeden Brief freust, so muss doch das Hin und Her der Gedanken

und Fragen sein, damit man nicht so ganz ins Leere schreibt.

Übermorgen hat nun unsere Ursel Geburtstag, und Jürgen feiert mit. Ich habe Ihnen gestern aus den alten Rolladengurten eine Pferdeleine fabriziert, und nun müssen jetzt bloß ein paar rote Knöpfe drauf (Glöckchen habe ich leider nicht, die haben die Blagen Weihnachten zertreten) und dann ist die Pracht fertig. Und dann mache ich heute noch Rahmbonbons und Marzipankartoffeln.

Ulla ist ordentlich erschüttert über sich selber, über ihre Bravheit. Sie geht förmlich auf Zehenspitzen aus Ehrfurcht vor sich selber.

Unsere Rabatte sieht doch traurig aus. Nun hat Mutter für 8,- Mk. Blumen gekauft, und nichts will blühen. Ein paar jämmerliche Tausendschönchen und vielleicht drei Stiefmütterchen wagen sich vor, das ist alles. Sollen wir nicht im Herbst das Bäumchen wieder mal tüchtig zurückschneiden, damit die Rabatte Sonne kriegt?

Und unsere Tage laufen so weiter und laufen, bis wir alt sind. Und trotzdem muss ich doch sagen, dass, wenn das Leben hier in unserer Familie so bleibt, wir glücklich sind, denn Ansprüche darf man ja nicht mehr stellen. Gottseidank bin ich auch keine Natur, die Möglichkeiten nachtrauert, die man hätte haben können.

Ich finde, es dürfte jetzt langsam besseres Wetter kommen. Das Unangenehmste ist der dauernde Wind, den man hier nicht gewohnt ist und bei dem man meinen könnte, man wohnt bei Euch da oben in der Ecke. Die Sonne, die morgens scheint, ist nachmittags weg, und der Nachmittag leidet dann unter dem Regenwetter und entsprechend ungezogenen Kindern. Wenigstens finden das wir Großen, sie selber werden ja wohl finden, dass wir sie unlogischerweise immer im besten Spiel stören.

Papps, kannst Du mal wieder Schreibmaschinenband besorgen? Deine Lotti

Ich hab Dich lieb und wünsche Du wärst hier. 1000 liebe Küsse
Deine Lotti.