Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 7. Oktober 1944

den 7.10.44

Mein lieber Mann!

Durchgedreht sind wir alle heute abend. Stell Dir vor, von halb neun heute morgen an auf nüchternen Magen bis zum Einbruch der Dämmerung Tiefflieger mit Bordwaffen und Bomben. Es war fast unmöglich, die nötigen Lebensmittel zum Sonntag einzukaufen, und wenn ich ging, dann musste ich unterwegs immer in irgendwelche Häuser. Ich lag um halb neun noch im Bett, weil ich mich etwas grippig fühlte, da kamen die ersten, ohne Alarm und dann immer mit Gebrumm runter auf die Schiffe auf dem Rhein und auf Bahnen und Straßen. Sie erinnern mich immer an die Mücken in Asseln, wenn sie zum Tiefflug ansetzen, aber es ist doch reichlich angreifend.

Einmal stand ich am Fenster im Schlafzimmer, da kam einer gerade ganz tief über Schlades Haus, er hat mir aber nichts getan. Und immer wieder rappelte alles von Bomben, und wir sind schon so abgebrüht, dass Lisbeth und ich nur sagten: Das war wieder eine, und dann arbeiteten wir weiter. In den Keller gehen wir überhaupt nicht mehr, denn wo soll das hinführen? Mir erzählte Bergfeld heute, der ja seine Zahnpraxis in Düsseldorf hat und von dem ich Dich grüßen soll, dass er seine Sprechstunde von 7 bis 9 eingerichtet hat, weil sich später kein Mensch mehr auf die Straße wagt.

Weißt Du, wenn das so losgeht, ist es doch besser, wenn Du die Kleinen holst, trotzdem Ursel mich flehentlich bittet, sie nur ja hier zu lassen. Seit sie acht Tage bei Foegens war, will sie um die Welt nicht mehr von ihrer Mutti fort, und das bockige kleine Ding wird vor lauter Angst davor zahm wie ein Hündchen und lässt sich wunderbar kommandieren. Aber wie das hier auf die Dauer werden soll, weiß ich wirklich nicht. Schlimmer kann es in Frankreich wirklich nicht gewesen sein, denn man wagt sich ja überhaupt nicht mehr auf die Strasse und es ist ein Glück, dass die Schulen geschlossen sind. Und der Ecke bei Geilenkirchen traue ich nicht so richtig.

Montag werden die neuen Lebensmittelkarten ausgegeben, Brot wird pro Person um 200 Gr. die Woche gesenkt, auf die Abschnitte, auf die es früher ein Viertel Butter pro Woche gab, gibt es auf die ersten beiden etwas Fleisch zum Ausgleich von Fett, auf Nr.3 für Jugendliche Butter (für Erwachsene scheinbar also nicht) und auf Nr.4 scheinbar Margarine. Wenn es hoch kommt, werden wir wahrscheinlich 1/4 Pf. Butter pro Person im Monat bekommen statt ein Pfund bisher.

Der Muckefuck wird auf die Hälfte reduziert. Hausbrand ist auch nur zur Hälfte geliefert worden, und die Kohlenmänner sagen, mehr bekommen wir nicht und, wie gesagt, Kartoffeln werden auch nur vom Großhändler mit einen Zentner vorläufig geliefert, die anderen stehen wohl noch im Mond. Wir werden uns also etwas einschränken müssen.

Hoffentlich, und das ist meine große Sorge

können die Rationen wenigstens geliefert werden. Aber wenn das Tiefflieger und Bombenspiel so weitergeht, sehe ich schwarz, und alles fragt wie Hans Steffen: 'Wo bleiben unsere Jäger?'

Biederbicks Schwiegersohn, der sich auch aus Frankreich durchgeschlagen hat, sagte, dass sie 40 Tage keinen deutschen Jäger über sich gesehen hatten, und dabei diese schrecklichen Angriffe. Und außerdem sagte er dasselbe wie die anderen: Die Offiziere haben zum größten Teil versagt und sind ohne ihre Leute auf und davon. Wie sagte Generalleutnant Dittmar? Die Amerikaner haben die deutsche Armee vor sich hergefegt wie Spreu vor dem Winde. Und Goebbels spricht von betrüblichen Erscheinungen, die sich dabei geltend gemacht hätten. Es ist ja nun doch eine dolle Leistung, dass die Führung die Front wieder so in die Hand bekommen hat, denn man höre doch viel betrübliche Sachen.

Wenn Du irgendwie mal kommen könntest, Fronturlauberzüge gehen ja wohl immer noch, wenn man auf die anderen nicht, mehr rechnen kann. Wenn man fahren will, macht man das am besten nachts, dann am Tag ist es halber Selbstmord und geht nur, wenn man dauernd aufpasst. Jürgen meinte aber gestern, dass unserem Haus nichts passieren kann, denn es wäre so gut getarnt, und dabei betrachtete er sachverständig den wilden Wein am Haus. Er weiß ja, dass Autos nur noch getarnt fahren.

Dass wir mal halbe Frontkämpfer werden würden, habe ich ja nie geglaubt. Kläuschen und Jürgen sind auch schon Sachverständige: 'Das war Flak, das waren Bomben, das waren MGs, das waren Bordkanonen.'

Schrecklich, nun ist Samstag abend, und ich schreibe Dir nun einen solchen Brief. Aber heute war wohl der schlimmste Tag, was Tiefflieger betrifft, denn einen Tag deswegen nicht richtig vor die Tür zu können, langt ja schließlich. Zu vier bis sechs kreisten sie den ganzen Tag über Godesberg, und ich habe auch gewünscht, es kämen Jäger und jagten sie ein bisschen.

Aber stattdessen konnten sie alles in Seelenruhe aufs Korn nehmen. Und das ist ja doch ärgerlich. Goebbels sprach davon, dass unsere Jagdwaffe ganz groß aufgerüstet würde, so dass sie in einiger Zeit ihnen wirksam entgegentreten könnte. Stimmt das? Und warum hört man von Göring so wenig? Das fragen sich heute alle Leute.

Es ist doch gut, dass Mutter dies alles nicht mehr mitmacht. Wir leben hier in Schrecken und Ängsten den Tag über, d.h. wir Gesunden werden stur, denn ändern können wir das Schicksal ja doch nicht, wir müssen eben warten, ob wir getroffen werden oder nicht.

Du hast, als Du an Herrn Becker schriebst, schon an einen Gefallenen geschrieben. Es gibt einige, von denen man nicht denken kann, dass sie nicht mehr leben. Herr Dürholt ist diese Woche gestorben. Er war noch vor vierzehn Tagen bei mir und meinte, er hätte nichts dagegen, wenn er gehen müsse. . . Er wäre nicht neugierig auf das, was noch käme.

Ich gehe ins Bett, denn ich bin sehr müde. Sei nicht enttäuscht über die gar nicht sehr schönen Briefe, aber wir müssen uns erst an den Frontbetrieb gewöhnen. Wie mag es Schulzens ergangen Sein? Eine Sorge jagt die andere

Viele liebe Küsse, Deine Lotti