Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 12. März 1944

den 12.3.44

Heute kam endlich mal wieder ein Brief von Dir. Hast Du eigentlich meinen mit der Aufforderung des Finanzamtes, bis zum 31. die Steuererklärung eingeschickt zu haben, nicht bekommen? Gestern habe ich die Formulare dazu erhalten, aber ich kann die Steuererklärung natürlich nicht machen. Ich hatte eigentlich gedacht, dass Du dafür Kurzurlaub bekommen könntest.

Heute ist wieder ein Sonntag ohne Lisbeth. Die Kinder sitzen im Spielzimmer und malen, sogar Jürgen malt unglaubliche Männer mit Riesenköpfen. Nur Ursel liegt im Bett mit einem verkorksten Magen. Sie will aber nicht im Bett bleiben und will außerdem essen, und gegen diese beiden Wünsche führe ich seit Stunden einen erbitterten Kampf.

Im übrigen gibt es augenblicklich hier mehr Schattenseiten des Lebens als Freuden. Einmal die Woche Steckrüben als Gemüsezuteilung und aus. Dann kann man sich den Kopf zerbrechen, wie man die Familie satt kriegt. Bis jetzt ging es ja immer noch trotz manchmal erheblichen Protestes irgendeines der Fünfe, wenn der Küchenzettel auch stur einseitig geworden ist. Lorbeerkartoffen, Kartoffelsuppe, Bechamelkartoffeln ad infinitum. Dazwischen Graupensuppe und billige Blutwurst dreimal die Woche, o Graus.

Aber die Kinder sind so fleischhungrig, und davon gibt's ein Pfund auf 100 Gramm. Und früher gab's um diese Zeit Chicoree und Kettensalat und Feldsalat und Spinat. Ich darf gar nicht daran denken. Wir sind alle richtig vitaminhungrig.

Dann gibts noch eine Reihe von Erschwernissen kriegsbedingter Art, die einem das Dasein verleiden können, über die man aber wegmuss oder womit man sich abfinden muss. Das, was mich augenblicklich am meisten drückt, ist Mutter. Sie ist seit vorgestern wieder im Krankenhaus, und zwar ging es Hals über Kopf. Ihr Zustand wird immer schlechter, sie ist matt, hat jetzt Wasser im Leib, und zwar ziemlich stark, und wird von fast dauernder Atemnot gepeinigt. Die letzten Tage hier zu Hause mit ihr haben mich schrecklich mitgenommen. Weißt Du, jemand leiden zu sehen und nicht helfen zu können, ist schrecklich, und nachts wache ich auf

und kann dann nicht wieder einschlafen, weil ich nicht weiß, wie es ihr geht. Ich besuche sie jeden Tag zweimal, weil sie mich immer um sich haben will, und stimmungsmäßig ist sie guter Dinge und gleichmäßig. Trotzdem meinte der Arzt vorgestern: Mit Ihrer Mutter gibt’s nichts mehr. Ein Angriff wie vorigen Samstag, und sie ist weg. Trotzdem meint die pflegende Schwester, dass sie noch länger leben kann, aber solche Schwestern dürfen keine Prognosen stellen und müssen aus Beruf optimistisch sein.

Ich schreibe Dir alles so, wie es ist, damit Du daraufhin vielleicht doch noch einmal einen Kurzurlaub bekommst, denn das wäre für die Mutter doch eine große Freude. Sie bekommt jetzt wieder jeden Tag eine Spritze und außerdem Tabletten, und trotzdem hat sie sich doch seit der Lungenentzündung damals trotz des dauernden Krankenhausaufenthaltes dauernd verschlechtert. Ob wir sie diesmal noch aus dem Krankenhaus mitnehmen werden? Und wenn, dann richte ich ihr das Wohnzimmer als Schlafzimmer ein, damit sie doch, weil sie fast oder überhaupt nur noch liegen darf, sie den Blick auf die Straße und die Sonne hat. Aber ist es nicht merkwürdig, dass Mutter, die doch früher immer Angst hatte, ich würde die Kinder, wenn sie krank waren, nicht genug pflegen, nun immer nur mich um sich haben will? In den anderthalb Wochen, die sie hier war, bin ich fast gar nicht mehr aus ihrem Zimmer herausgekommen, und ich tue es gern. Und plötzlich will sie nichts mehr von Fräulein Wolf wissen, wenn die sie besuchen will, muss ich sie sogar abweisen 'weil sie ihre giftigen Seitenhiebe in ihrem Zustand nicht mehr ertragen kann'. Sie lehnt sie plötzlich völlig ab.

Heute morgen war ich nur kurz bei ihr, weil Lisbeth ja nicht da ist, und gegen Abend will ich nochmal hin. Hoffentlich bekommt sie nicht zu viel Besuch. Der Arzt sagt, wenn das so weitergehe, mache er ein Schild an die Türe. Vorgestern, kurz nach der Einlieferung, waren neun Personen da.

Die Rechnung für den letzten Krankenhausaufenthalt habe ich eingeschickt. Sie beträgt mit Arztkosten etwas über 500.- Mk. Nun bin ich gespannt, ob die Versicherungen zahlen. Die Oberschwester meint, das wäre vielleicht schon nicht mehr der Fall.

Draußen ist es kalt. Der Frühling will dieses Mal nicht kommen. Heute haben wir wenigstens 5 Grad über Null, ein mageres Ergebnis für den 12. März.

[Rest fehlt]