Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 26. November 1940

Bad Godesberg, den 26.11.40

Liebster Harald,

also endlich kam heute morgen Dein Brief. Ich war schon immer so gespannt, dass ich, bevor die Briefträgerin nicht da war, nicht frühstücken konnte, so lag mir die Ungewissheit im Magen. Ich bin ja so ein nervöser Zappel. - Die Ausbildung hättest Du nun also hinter Dir. Hoffentlich ist gestern die Besichtigung gut abgelaufen, und das Fest heute abend wird schön. Jetzt möchte ich bloß wissen, ob Du noch die letzten Briefe beantworten konntest, die ich Dir schrieb. Aber das werden ja die nächsten Tage zeigen.

Hoffentlich kommst Du nicht zu weit weg. Und wie machen wir es mit dem Arbeitsurlaub. Oder wie soll ich die Sachen sonst regeln? Gib mir Anweisungen, dann kann ich ja auch selber weiter. Oder schreibe Du an die wichtigsten Stellen von dort aus. Kannst Du mir eine schriftliche Vollmacht für das Konto Holbach geben? Damit ich ein neues Scheckbuch besorgen kann?

Dein Sohn Jürgen hat heute sein erstes Zähnchen bekommen. Es ist noch so winzig, dass man es nicht sieht, sondern nur klappern hört. Nachdem ich ihn gebadet hatte, bin ich in die Stadt gegangen und habe versucht, ein Fliegerhemd zu bekommen. Also, das ist so gut wie aussichtslos. Die Dinger kommen überhaupt nicht mehr rein, wurde mir bei Galleps und Posthens gesagt. Frau Posthen hat ein Hemd, das so ähnlich in der Farbe ist, auch hellblau. Sie meint, das könne man nehmen, aber da ich Frau Billig mit ihren meist unbrauchbaren Vorschlägen kenne, will ich Dich doch erst lieber fragen, ob ich es kaufen soll. Es hat angeschnittenen Kragen, ist hellblau und aus grobem Stoff.

Unten ist dicke Luft. Ursel hat Omi Endemann in tiefste Betrübnis versetzt, und sie sieht schwarz für ihren Charakter in der Zukunft. Sie ist nämlich an die Weihnachtsplätzchen gegangen. Jetzt steht sie mit schokoladebraunem Gesicht in der Ecke und muss sich schämen. Innerlich kocht sie, denn als Klaus in ihre Nähe kam, hat sie ihn heimlich, ohne dass man es merkte und mit völlig unbewegtem Gesicht ins Bein gekniffen. Klaus brüllte natürlich, als ob ihm das Bein abgehackt worden wäre, und hat sich dann wutentbrannt auf seine Schwester gestürzt.

In der Stadt traf ich heute morgen Frau Wolframm. Ihr Mann abeitet morgens schon wieder in den Ringsdorffwerken. Dann traf ich die geborene Ledebur, die damals den österreichischen Schneider geheiratet hatte.- Sie ist wieder verheiratet mit dem Bruder von Dr. Albitz. Was sagste nun?

Es ist doch merkwürdig mit der Liebe. Hübsche und reizvolle Mädchen bekommen keinen Mann, und die jetzige Frau Albitz ist doch, was das Aussehen anbelangt, alles nicht sehr verführerisch, hat dazu das Kind von diesem Taugenichts und keinen Pfennig und macht nun diese doch immerhin gute und gehobene Partie.

Jetzt bekommst Du wirklich Tagebücher geschrieben. Denn wenn ich erst dann schreibe, wenn ich Deine Adresse weiß, habe ich die kleinen Dinge, die täglich passieren, vergessen und Du hörst doch gerne von allen Begebenheiten.

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Schnell ein paar Worte an Dich, nachdem ich das Tripelkonzert von Bach und die Aria aus dem h-moll -Konzert von Händel gehört habe. Es war wunderschön und feierlich. Ich bin ja kein grosser Musikkenner, aber Bach und Händel sind mir nun mal die liebsten. Es wurde wunderschön musiziert. Du wirst ja wohl gerade Deinen Kameradschaftsabend anfangen. Hoffentlich füttern sie Dich heute abend auch schön, denn das gehört mal zu einem gemütlich Abend und macht einen verunglückten erträglich.

Ist das nicht lieb von mir, dass ich so oft schreibe? Dafür musst Du mich auch streicheln. Oben werden die Kinder mit Hilfe von Anneliese und den beiden Lindes ins Bett gebracht. Da bin ich dann überflüssig. Ich gehe nur nachher hin und gebe ihnen die Tabletten für den Keuchhusten.

Ach Pappi, ich sehe Dich im Geiste morgen mit dem Affen dastehen und auf die Eisenbahn warten. Hoffentlich kommst Du irgendwohin, wo es ausser dem Dienst auch nett ist. Wenn Du nach Holland kämest, könntest Du ja wohl auch Pützens besuchen. Südfrankreich wäre ja auch nicht übel.

Heute nachmittag war ich im Mütterkreis bei Frau Zunn mit Helga. Es wurden Weihnachtstransparente gemacht und Helga hat ihres genau so hübsch gemacht wie ich meines. Frau Zunn erzählte mir mit leichter Entrüstung, und darin hat sie ja auch ganz recht, dass Frau Pfarrer Böhm ihr viertes Kind erwartet, dabei ist das Älteste drei Jahre alt. Das Dritte kam am 31. Dezember zur Welt, anschliessend bekam sie Diphterie und Scharlach und jetzt im Dezember ist Nr. 4 fällig. Ich finde das ja auch leicht übertrieben und ausserdem hätte ich das dem kleinen Pfarrer Böhm garnicht zugetraut. Ich will ja nicht maliziös werden, aber allerlei Betrachtungen werden in mir angeregt. Ich muss aber mit Fontane sagen: Das ist ein zu weites Feld.

den 28.11.40

Wo magst Du jetzt wohl sein? Ich hatte immer gedacht, ich hätte vielleicht noch eine kurze Karte bekommen, aber das stimmte nicht.

Heute nachmittag gehen die Omis ins Kränzchen, und ich werde mich mit Ruhe an einen Verdunkelungsvorhang für das Biedermeierzimmer machen. Gestern abend haben wir mit den Lindes und Anneliese das Puppenzimmer für Helga zurechtgemacht, d.h., zuerst einmal tapeziert und die Türen und Möbel gestrichen. Der Verputz kommt heute abend dran. Wir haben furchtbar viel gelacht, denn Anneliese ist ein Original. Gestern nachmittag war ich in Bonn (die Fahrt ist übrigens immer noch eine Himmelfahrt, denn die Bomben liegen noch). Es war aber weder ein kleiner Herd für Heidis Küche noch kleine Püppchen für die Zimmer aufzutreiben.

Der Oberbürgermeister von Köln (Ilses Vetter) ist im Alter von 56 Jahren gestorben. Die Zeitungen stehen voller Nachrufe.

Heute ist ein trüber Tag. Den ganzen Morgen regnet es schon, und die Kinder sind ungezogen. Deshalb muss ich mich jetzt ihnen statt Deinem Brief widmen.

 

den 30.11.40

Hurra, die Einkommensteuer ist erlassen. Nun drückt mich noch die Sache Weil. Wenn ich nur wüsste, ob Du von dort aus geschrieben hast. Ich habe nämlich noch nicht geantwortet. Weil nun der Erste kommt und mit ihm die Steuerzahlungen habe ich Notar Baum und den Siren und Mertens auf dem Amt gefragt, wie ich mich verhalten soll. Keiner will mir eine Antwort geben, denn der Gestapo gegenüber wollen sie keinen verbindlichen Rat geben. Alle sagen mir, ich soll selber nach Bonn fahren und mich erkundigen. Das muss ich dann wohl Montag tun, wenn bis dahin keine Nachricht von Dir kommt. Denn die Kardinalfrage ist: Müssen die Steuern und Verpflichtungen weitergezahlt werden oder ist es eine vollkommene Beschlagnahme. Es ist grässlich, dass mir da keiner raten kann.

 

Abends

Ich habe jetzt eine Viertelstunde für Deinen Brief übrig. Ob Du wohl Zeit hast, an uns heute abend zu denken oder ist bei Euch alles auf Krieg eingestellt? Gleich kommen Lindes zum Adventfeiern zu uns. Es ist so friedlich hier im Zimmer, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass vielleicht nachher schon wieder die Sirenen gehen. Auf dem Tisch im Biedermeierzimmer brennen schon die Kerzen im dreiarmigen Leuchter, Gebäck und Äpfel stehen da, und auf dem Teewagen brennt schon das blaue Flämmchen unter dem Samowar. Auf dem kleinen Tischchen an der Wand liegt der Adventskranz mit seinen vier Kerzen, auch vor dem Bücherregal brennt die Kerze im Messingleuchter. Ich freue mich immer wieder an dem entzücken-den Bild und an dem Lichterspiel in Kristall, Silber und Glas. Und dann wollen wir nachher die Weihnachtserzählung von Monika Hunnius vorlesen, und auf dem Sofa liegt noch Dein Weihnachtsgeschenk, über das ich mich doll freue. Ich glaube, Du wirst auch großen Spaß daran haben. Es ist völlig unmotiviert aufgetaucht oder entdeckt und ist für unsere Wohnung, gefällt uns beim Ansehen immer besser und hat in der Mitte ein L. Jetzt kannst Du Dir den

Kopf zerbrechen. Dann bekommst Du noch etwas, worüber Du Dich, glaub ich, freuen wirst und vielleicht noch etwas, was praktisch ist, worüber Du Dich aber auch sehr freuen wirst. Ach, Pappi, warum bist Du so weit weg? Jetzt muss ich Dich im Brief neugierig machen. Ich denke so viel an Dich und bin stolz, dass Du zu den Soldaten gehörst, die nicht unnötig klagen und schimpfen, siehe Baumann, den sie jetzt aber erneut gemustert haben und der jetzt auch wegkommt. Dem gönne ich es ja.

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Gleich ist es zwölf Uhr. Ich sitze am Ofen, die Schreibmaschine auf den Knien, die Kerze vor mir auf dem kleinen Hocker. Im Zimmer duftet es nach Kerzen, Tannen und Äpfeln. Wie oft haben wir so spät nach einem hübschen Abend noch gesessen, und das war dann immer noch das Hübscheste. Die Omis habe ich vor zehn Minuten deutlich aus dem Zimmer komplimentiert, nachdem mir jede in ihrer Ecke wieder eingeschlafen war. Sie waren etwas pikiert, sind dann aber doch gegangen. Aber ich muss manchmal einfach in meinem Zimmer allein sein, und wenn es darüber zwölf Uhr wird. Und was so in den letzten Stunden gesprochen wurde, kennst und weißt Du ja auch. Das Alleinseinwollen ist auch der Grund, warum ich sonst abends schon um neun ins Bett krieche. Und ich kann Dir sagen, wenn Du auf Urlaub kommst, werden die Omis um zehn Uhr unnachsichtig ins Bett gesteckt, damit wir wenigstens dann noch etwas Zeit für uns beide haben. Sonst sehe ich in dieser Beziehung sehr trübe in die Zukunft.

Jetzt ist es wunderhübsch. Es ist alles so still, in der Ofenwärme schnurre ich behaglich wie eine Katze, habe das Weihnachtsheft der ‘Dame‘ bei mir, sehe in die Kerze und denke an alles und an nichts. Und an Dich natürlich. Überhaupt heisst das „alles und nichts“ der Gedanke an Dich, der jetzt in der Stille Zeit und Ruhe hat, alles auszuspinnen. Wenn ich bloß wüsste, wo ich Dich zu suchen habe. Aber ich fühle ordentlich, wie die Gedanken hin- und herirren, weil sie nicht wissen, welche Richtung sie einschlagen sollen. Das fühlt man wirklich ganz deutlich. Du wirst mich ja, wenn Du nicht schon schläfst, oder sehr beschäftigt bist, mit finden.

Morgen ist das fünfzigste Wehrmachtswunschkonzert. Ich bleibe allein zu Hause und werde mir am Radio einen sehr hübschen Nachmittag machen. Mit den beiden Großen werde ich auch die Adventskerzen anstecken. Klaus und Ursel dabei zu haben, ist zu aufregend. Heute nachmittag zogen sie schon jeder mit Kerzen bewaffnet, die sie sich aus den Kranz und aus Leuchtern gezogen hatten, ab. Und dabei vergeht dann die ganze sanfte Adventsstimmung, und man wird zum Racheengel, der Adam und Eva zum Paradies hinauswirft.

In der Küche streikt der Gasherd. Die rechte der drei Flammen tut es nicht mehr, und der Geselle von Gummersbach stellte fest, dass ein ganz neues Teil reinmuss. Dabei hat es uns die linke Flamme auch leicht angeknackst. Die streikt nun seit heute abend vollständig, und nun stehen wir morgen vor der schönen Aufgabe, das gesamte Mittagessen am Sonntag auf einer Flamme zu kochen. Wie das gehen soll, macht mich .garnicht neugierig. Es wird bestimmt sehr schön.

Jetzt wird aufgehört, Pappi, denn ich werde vom Maschinenschreiben immer wacher, und gleich ist es halb eins. Aber ich möchte Dir immer schreiben und schreiben und weiß gar nichts Rechtes. Ich denke mir immer, Du sitzt jetzt im Sessel mir gegenüber und sagst: „Komm, Lött, lass mich das eine Zigarettchen noch rauchen."Und dann sitzen wir noch ein paar Minuten. Und das werde ich jetzt auch tun, gute Nacht!

Sonntag

Heute morgen kam ein Brief von Rechtsanwalt Wiel aus Wuppertal, Die Stadt hat bei ihm angerufen und will eine Entscheidung wegen ihres Vorschlages noch in diesem Monat haben (Ankauf von Engelsschen Grundstücken). Was soll ich machen? Ich kann nur vorschlagen, dass die Stadt wartet, bis Du Urlaub bekommst oder von dort Nachricht gibst.

Vor Tisch rief Edith Vogel an, Karl kommt weg, erst nach Wien, dann nach Griechenland. Er ist einer Panzerdivision zugeteilt, dann kommt er Weihnachten bestimmt nicht, Edith wartet stündlich auf ein Telegramm, das sie noch einmal nach Braunschweig ruft. Seine Abteilung sollte diese Woche auf einen Schiessplatz in der Nähe von Reinsehlen kommen und er wollte Dich dann besuchen. Wie lange wird es nur wohl dauern, bis Ihr beiden Euch wiedersehen werdet. Und Ihr seid etwas ganz anderes geworden, was mit unserem Leben hier garnichts mehr zu tun hat und das für uns etwas ganz Fremdes und Unvorstellbares ist, Männer die kämpfen, also ein Beruf, der Euer Gebiet schon seit Jahrtausenden ist und der Euer eigenster Beruf ist und Euch aus Eurem sonstigen Leben in eine ganz andere Welt setzt. Ich kann mich nicht richtig ausdrücken und der Wilhelm könnte es bestimmt anders und würde lange Philosophien dranknüpfen, die ich auch fühle, aber für die ich nicht den Verstand habe, sie klar zu formulieren. Überhaupt lese ich niemals mein Geschreibsel durch, sonst würde ich wahrscheinlich vieles verbessern und geschickter ausdrücken. Aber eigenes Geschriebenes lesen habe ich noch nie fertiggebracht. Sogar meine Backfischtagebücher habe ich noch nicht wiedergelesen, aber das werde ich jetzt an den vielen langen Abenden tun. Früher genierte ich mich vor mir selbst und vor den eventuellen Gefühlsausbrüchen, die ich vielleicht wiederfand, wenn ich es las. Jetzt ist nach zwanzig Jahren der Abstand groß genug geworden, so dass ich wohl meinen Spaß daran haben werde, weil es mir jetzt vorkommt, als habe das ein fremdes junges Mädchen geschrieben.

Zwanzig Jahre sind es jetzt fast her, und unsere Helga ist zeitlich näher ihrer ersten Liebe. sogar doppelt so nah, als wie wir entfernt sind und ich meine, es wäre erst ganz kurze Zeit her. Gerade die Zeit zwischen 16 und neunzehn mit ihren starken Gefühlserlebnissen kann ich mir heute noch vorstellen und kann sie noch nachempfinden, und deshalb ist es mir so unfassbar, dass alles dies schon zwanzig Jahre bald her ist. Überhaupt glaube ich, dass nur unsere Hülle älter wird, und innerlich bleibt man wenigstens halb ein Blag von l6. Dazu passt, dass wir dieselben Unarten, wegen deren wir unsere Kinder strafen, machen. Siehe Adventskalender. Die Kinder werden grässlich gescholten, wenn sie die Fensterchen vorzeitig aufknibbeln, und was tun wir Mütter, wenn wir sie kaufen? Wir gehen hin und machen vorsichtig das Fensterchen

vom 24. auf, um zu sehen, was für ein Bild da ist. Blos wir können es besser wie unsere Kinder und machen es so, dass es nicht auffällt. Ich sprach heute mit Frau Ehlers darüber und was tut sie? Sie knibbelt auch und ist doch beinahe sechszig.

Helga und Heidi, waren heute morgen im Kino. 'Die sieben Raben' wurden gegeben, und Helga hat sehr geweint. Obwohl die Vorstellung um neun anfing, holte Tulita sie schon zu nachtschlafener Zeit im Stockdunkeln ab. Heute nachmittag gehen sie zu einer Schüleraufführung in Haus Trotzendorff, Frau Luscher schickte heute herüber. Ursel und Klaus wandern auch mit. Klaus hat eine richtige Bärenstimme und macht uns bei Tisch alle nervös, wenn er um den Tisch wandert und Fleisch haben will. Die Stimme durchdringt alles. - Helga ist sehr vernünftig und schelmisch. Ich sagte ihr heute: "Du wirst mir ja später schön auf der Nase herumtanzen." Da sagte sie: „Ach Muzichen, des tue ich ja heute schon“ und tippte mir mit ihrem Fingerchen auf die Nase. Aber sie ist vorbildlich artig,

Die Omis gehen gleich aus dem Haus. Die Kinder sind auch weg. Ich gehe jetzt in die Küche, koche mir einen schönen Kaffee und höre dann bei Kaffee, Weihnachtsstollen und Zigaretten das Wehrmachtswunschkonzert. Und wenn es dämmert, stecke ich die Kerzen an. Das wird sicher ein sehr hübscher Nachmittag, und Du wirst die ganze Zeit in meinen Gedanken sein. Aber das merkst Du ja wohl auch an meinen langen Briefen. Ich kann Dir nicht viel Neues berichten, aber weil ich den Wunsch habe, mit Dir zusammen zu sein, wird eben alles geschrieben, was mir einfällt, und da ich kein Schreibtalent habe, werden die Briefe sicher manchmal sprunghaft und nicht ganz durchdacht. Aber freuen wirst Du dich doch.

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Helga ist ein Racker. Sie liest alle Druckschrift, lateinische und deutsche Buchstaben, trotzdem sie in der Schule die letzteren noch nicht gehabt haben. Aber fließend. Jetzt hat sie ein altes Lesebuch erwischt, das damals von Ottos mitgeschickt wurde und mit dem wandert sie den ganzen Tag umher. Sie erscheint mit ihm am Kaffeetisch, in der Küche, in den Zimmern und im Bett und liest und liest und liest. Besonders hat es ihr das schöne Gedicht vom Hirtenknaben und der Kapelle und das 'Lied von der Glocke' von Goethe angetan. Sie stellte gestern fest, dass tausendmal schöner als alles Spielen das Lesen sei und dass sie am liebsten gar nicht mehr schlafen möchte, um immer zu lesen. „Jetzt kann ich mir denken, Muzi“, sagte sie, „dass Du Dir immer so viele Bücher gewünscht hast." Ihre armen Geschwister sind die Opfer ihrer Leseleidenschaft, sollen immer zuhören, streiken aber. Ich sprach mit Fräulein Bennewitz. Helga ist in der Schule sehr verträumt (kenne ich von mir), aber Fräulein Bennewitz sagt auch: "Was soll sie denn in der ganzen Zeit tun, wenn ich mit den anderen Kindern die Sütterlinschrift buchstabiere, über die sie doch längst raus ist." ---

Eben kommt Dein Brief an. Gott sei Dank. Nun schnell in den Kasten mit diesem. Viele Küsse, Deine Lotti.

Gruß von allen. Was mache ich mit Weie? Ich rege mich so schrecklich über Sachen, bei denen ich nicht weiter weiß auf.