Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 29. Juli 1943

den 29.7.43

Liebster Mann !

Heute bekam ich drei Briefe von Dir. Das war ein Kaffeetrinken nach dem Sinn des Heiligen Vaters, würdet Ihr früher gesagt haben. In der Zwischenzeit hat sich ja allerlei wieder ereignet, was man in Jever noch nicht voraussah. Ich denke an Mussolinis Rücktritt. Man machte sich ja über Italien allerlei Gedanken, aber daran hätte man zuallerletzt gedacht. Ich glaube ja nun auch, dass sich in der nächsten Zeit die Ereignisse überstürzen werden, aber ich glaube auch, dass in dem Fall Niederösterreich bestimmt nicht ungefährdeter ist als Godesberg. Es kommt ja nicht darauf an, möglichst weit weg zu ziehen, sondern möglichst uninteressant für die Flieger.

Vorläufig sind die Diplomaten ja noch hier. Hansi schrieb gestern, sie hat für Ursel und Helga einen Platz. Sie verkehrt doch dort auf den Gütern, die mit Balten besiedelt sind. Als sie von meinen Briefen erzählte, bat sie die Schwester des Besitzers zu einem Spaziergang und bot ihr an, zwei Mädels von mir zu nehmen. Sie wohnt in Posen, ist die Frau eines Kunsthistorikers, hat keine Kinder, aber eine schöne Villa und möchte gerne Kinder nehmen, von denen sie ungefähr weiß, wo sie herkommen. Dieses Angebot finde ich ja auch verlockend, aber trotzdem möchte ich mich nicht entschließen und noch etwas abwarten. Man entschließt sich doch zu solchen Maßnahmen recht schwer. - Ein Umzug würde mir ja bezahlt werden, aber was tun wir nach dem Krieg in Niederösterreich? Ich möchte aber auch die Kinder nicht für längere Zeit fortgeben. Außerdem wird sich die Dame keinen Begriff machen, was es heißt, Ursel zu erziehen. Das Blag ist die letzte Zeit von einem Trotz und einer Widerborstigkeit, die haarsträubend sind. Und zwar bockt sie aus lauter Freude am Bocken. Kriegt sie welche übergezogen, dann brüllt sie so, dass man es über die ganze Straße hört, aber auch, wenn man es nicht tut und ihren Wunsch, der manchmal sehr ausgefallen ist, abschlägt.

Ich habe heute ein Telegramm an Carels geschickt, das Dir mitteilt, dass die Hochzeit erst am 4. ist. Ich wusste nicht, wie ich Dir anders Bescheid geben sollte. Telefonieren können wir hier noch immer nicht. Nun fahren wir Montag nach dort. Aber trotzdem kommt die Zeit ja näher, in der Dein Urlaub dann dort

Fällig wird, und da dieser Krieg wirklich reich an unerwarteten Wendungen ist, soll man ihn wirklich nicht verschieben. Eher komme ich nochmal im Frühjahr nach dort. -

Hier ist auch Sommer, aber Godesberger mit 31 Grad im Schatten und so. Aber trotzdem freue ich mich. Morgen ist Klausens großer Tag. Er kommt in die Schule, aber heute muss er noch zum Haareschneiden.

Mutters Geburtstag ist kriegsmäßig, aber dafür sehr hübsch gefeiert worden. Sie hat das Lorgnon bekommen und ist sehr glücklich darüber. Sie hat nachmittags mit ihren Kränzchendamen bei Böhm gefeiert. Ich war zu Hause geblieben, weil ich Deinen Anruf abwartete. Auch heute werde ich deshalb keinen Schritt aus dem Hause tun Ich habe aber vorhin mit Schrecken festgestellt, dass das Telefon einige Zeit nach oben gestellt war. Hoffentlich ist da nicht gerade der Anruf gekommen.

Weshalb wird Hauptmann Witt nun plötzlich versetzt? Und wen bekommt Ihr nun? Was erzählt Lichtschlag?

Ich freue mich, dass Du in Jever bleibst, d.h. für mich, weil das alles für mich Vorstellung hat.

Gestern hat Ilse Gesler mir den hintersten Backenzahn rausgeholt. Es war lieblich. Sie hat über eine halbe Stunde dran gearbeitet. Weil ich nun den Nachrichtendienst hören möchte, mache ich Schluss.

1000 Küsse
Deine Lotti