Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 14. Mai 1941
den 14. Mai 41
Mein liebster Mann!
Ich finde es sehr nett von Dir, dass Du bei Deiner beschränkten Zeit zuerst mal mir schreibst statt den anderen. Ich mache Din Frau macht es ja genauso. Und ich hoffe jetzt nur, dass es nicht so viel Arbeit gibt, dass Du mal einen oder zwei Tage überschlagen musst.
Ich sitze hier vor Ursels Geburtstagstisch, ja, heute am 14. Wir haben den Geburtstag um einen Tag verlegt, weil gestern abend Mutter wiederkam und zweitens ich gestern Kränzchen hatte. Der Geburtstag ist wie üblich mit dem alten Gesang gefeiert, worden, und zwei Minuten drauf war, wie auch üblich, der Tisch vollkommen geplündert. Heidi schmiss mit dem Ball beinahe die große Glasvase um (auch wie üblich), und Ursel machte sich zuerst über den Teller mit Süßem her (auch wie üblich). Deine Mutter hat ihr aus Düsseldorf ein reizendes, rosa Schutenhütchen mitgebracht, das ihr ganz reizend steht.
Und jetzt mal zuerst zu dem, was heute wohl alle am meistens bewegt, zu dem Fall Hess. Wir sind alle wie vor den Kopf geschlagen und es ist ein tolles Rätselraten, was wohl dahintersteckt. Am ersten Abend, als erst die Nachricht von seinem Verschwinden durchgegeben wurde und man dasaß und überlegte, ob er wohl Selbstmord begangen habe, sagte ich auf einmal: Der wird doch wohl nicht aus irgendeiner Opferidee raus nach England geflogen sein. Da guckten mich alle blöd an. Aber ich hatte mir so überlegt: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Hess nicht treu zum Führer steht und stellte mir dann sein Gesicht vor, wie wir voriges Jahr mit ihm sprachen, das (er) mir irgendwie leid tat, weil es etwas Gequältes und Verkrampftes hatte, und wenn dann einer monatelang in einer seelischen Krise lebt, mit der er allein fertig werden muss, dann kann unter Umständen, für die anderen unmotiviert, eine Handlang rauskommen wie diese jetzt.
Vielleicht hat er aber auch wirklich englische Verbindungen gehabt, und es wäre alle die Jahre ein Komödienspiel gewesen. Aber dann kann man auf niemand mehr bauen, weil Hess ja als das Muster der Treue zum Führer galt. Es ist auf jeden Fall schlimm, wie die kleinen Leute über ihn urteilen, und rührend, wie alles zum Führer steht. Schreibe mir, wie Du darüber denkst. Es ist auf jeden Fall so, dass wir hier kaum ein anderes Thema kennen. Und ich denke auch, was seine Frau jetzt durchmachen muss an Leid. Hat er denn nicht daran gedacht?
Gestern, bei wunderschöner Mondnacht, war wieder Alarm. Es war sehr ruhig, nur die Tommys brummten, bis dann auf einmal, rummmss, wieder eine Bombe zwischen Dollendorf und Königswinter runterkam. Das scheint jetzt hier zu einer stehenden Einrichtung zu werden.
Dein Sohn Klaus (4 Jahre) ist ein "Panzer" geworden. Frau Linde hat ihm eine alte schwarze Baskenmütze geschenkt, und die setzt er nicht mehr ab. Er hat sich sogar die Ohren ohne Gebrüll waschen lassen,
weil Panzer ja nicht schreien, meint er, wenn der General sie wäscht. Und Ursel (3 Jahre) ist, wie sie sagt, "ein deutsches Mädchen". Aber ein sehr aggressives. Klaus meint, ob Panzer die deutschen Mädchen angreifen dürfen, wenn die ihnen was wegholen wollen. Ursel kommt, im Garten sei es zu kalt zum Spielen, auf der Straße sei es wärmer.
Mutter ist sehr angeregt von Düsseldorf wiedergekommen. Tante Emilie war mittlerweile auch von ihrer Reise zurückgekehrt.
Jetzt muss Helga diesen Brief in den Kasten tun, sonst bekommst Du wieder zwei Tage keinen Brief. Montag konnte ich nicht schreiben, weil wir Hausputz hatten und gerade, als wir die Gardinen abgenommen hatten, Anneliese wieder zur Polizei bestellt wurde. Ich sass dann den Nachmittag alleine mit dem Haushalt und Hausputz da. Gestern war Kränzchen, Kuchenbacken und Abholen von Mutter, also auch keine Möglichkeit. Gleich gibt es nun Geburtstagskaffee, und heute abend soll ich mit Frau Hillenbrand in den Film gehen.
Ich küsse Dich, Liebster. Helga grüßt und küsst ihren Pappi auch. Deine Lottimaus