Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 15. Mai 1941

den 15.5.41

Mein liebster, liebster Harald,

Ich habe richtig Feierabendstimmung, denn ich habe die Abrechnung Rau und Mathieu hinter mir und abgeschickt und die ist ja für mich immer ein Berg, der bewältigt werden muss. Aber es geht jedesmal besser. Die anderen mache ich immer am Anfang des Monats. Rau und Mathieu verlangen aber immer einen ungestörten Nachmittag, und den habe ich nicht so ohne weiteres.

Heute kam Dein Brief an, in dem Du sagst, dass Du mich verwöhnen möchtest. Du Lieber, Du bist doch immer so lieb zu mir gewesen, mehr brauchst Du garnicht. Aber ich finde es schrecklich lieb von Dir.

Es regnet, es regnet --- und die Gören haben trotzdem draußen mit dem neuen Ball gespielt und sehen dementsprechend aus. Alle liegen im Bett, nur Ursel hat anscheinend noch einen Wunsch, denn ich höre sie mit ihrem süßen hellen Stimmchen. Jetzt kommt Klaus dazu, der so komisch beim Lachen juchzen kann. Jede Lache beendet er neuerdings mit einem Juchzer. Und Jürgen wird so niedlich. Er bekommt auch einen gestreckten Hinterkopf, genau wie Klaus. Sein Profil sieht gar nicht mehr wie Gesler aus.

Ich wollte mir, weil es so regnet, als Feierabend die ´Neue linie´ holen, die aber bis heute nicht erschienen ist. Schade, wirklich, denn das wäre heute das Richtige gewesen. Übrigens sitzt Ursel jetzt schon neben mir und stört mich erheblich. Sie will heute abend nicht ins Bett, und nun bellt sie wie ein Hund und meint, das wäre ein großes Witz.

Über den Schrecken mit Hess sind wir noch nicht ganz weg. Herr Schüler sagte eben, er habe gehört, Hess sei wieder in Berlin, er habe die Orientierungskarten vergessen. Also der erste Ansatz zu einem Witz, den man über Hess hört.

Weisst Du, ich mache jetzt Schluss mit dem Brief, damit er um acht noch mitgeht. – Es hat keinen Zweck, den der Briefträger hat den Kasten jetzt um viertel vor acht schon geleert. Das hat er sich so angewöhnt.

Sag, hast Du schon irgendwelche Bücher ausgelesen? Vergiss nicht, sie zu sammeln und zu-rückzuschicken, damit keins verlorengeht. Es sind ja viele dabei, die ich besonders gerne habe. Ist der Roman nett?

Ich sitze nun hier und weiß wieder nicht viel zu schreiben, wohl schön zu erzählen, wenn Du hier wärest. Es ist doch ein großer Unterschied, ob wir zusammen hier am Tisch säßen und Rede und Gegenrede ginge hin und her, oder ob ich ganz einseitig erzählen muss.

Im Zimmer wird es sehr dämmerig, weil draußen tiefe Regenwolken hängen. Vor dem Fen-ster, das noch keine Gardinen hat, stehen die roten Azaleen und daneben ein Strauß lila Flieder. Das sieht wunderhübsch aus vor dem Grün der Rotdornbäume. Wir machen jetzt abends oft gar kein Licht, bis wir zu Bett gehen.

Ach Gott, die Omis regen sich jetzt noch auf, dass ich Dir damals das Postsparbuch mitgege-ben habe. Sie meinen, das wäre jetzt ein schöner Reisefonds für mich. Denn wir wälzen mal wieder Reisepläne. (Ach Gott, Pappi, jetzt denkst Du: Sie ist mal wieder an ihrem leidigen Unterhalt. Ich hör schon auf, aber er ist ja nun mal das A und O meines Daseins und ich winde mich wie ein Aal zwischen den Verpflichtungen durch. Am liebsten würde der Aal schon einen Satz in den nächsten Monat machen, weil er von jedem Monat hofft, dass er endlich ein Plus am Ende des Monats hat. Aber da stehen dann als feste Ausgaben immer wieder die 50.- Mk. Kassel und dann Kohlensammeln und demnächst Kartoffeln kellern für den nächsten Winter. Dann vergeht so einem Aal das Wandern, und er rollt sich schön brav zusammen.

Weisst Du, ich gehe jetzt ins Bett und nehme mir als Abendration Mörikes mit. Ich habe nach den Aufregungen des Geschehens um einen Lust, einen richtigen Romantiker zu lesen... Und da es gleich zehn Uhr ist und ich im Dunkeln schreibe, musst Du Dich nicht an den Fehlern stoßen, die höchstwahrscheinlich in diesem letzten Absatz sind.

Gute Nacht, ich wünsche, Du wärest hier. Deine Lotti