Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 17. August 1941
den 17.8.41
Mein lieber Mann!
Es ist Sonntagnachmittag, und Dein Brief kommt an die Reihe. In den nächsten Tagen werde ich wohl keine langen Briefe schreiben können, denn hier wartet eine Arbeit auf mich, dass ich nicht weiß, wo anfangen. Zum Amt wegen der Luftschutzgeschichten werde ich wohl in den nächsten Tagen nicht kommen.
Manchmal möchte ich die Flinte ins Korn schmeißen, aber dann denke ich an die wunderschönen drei Wochen und strenge mich besonders an. Ich muss mich blos immer selber wieder zusammenreissen, damit ich nicht mitten in der Arbeit ins Träumen gerate und auf einmal in Husum bin. Und ich habe mir jetzt fest befohlen, die Storm-Novellen erst nach dem Abendessen in die Hand zu nennen, denn sonst lese und träume ich und falle für eine ganze Zeit aus. Ich lese alle Novellen noch einmal und erlebe sie ganz anders. Und Storm hat Husum wirklich so geschildert, wie wir es kennen, nur hat die Stimmung, die er über seinen Novellen hat, mir in meiner Fantasie ein anderes Bild gegeben. Und nun merke ich, dass alle Novellen in Husum zu Hause sind und dass er nur persönlich erlebtes oder von seinen Grosseltern gehörtes verarbeitet.
(Ich bin unterbrochen worden und noch ausser Atem. Vor dem hause hatte sich ein fünfstimmiges Geschrei erhoben. Ein Gewitterschauer kam und meine fünf, die einen Spaziergang ums Carée machten, strebten ins Trockene).
Also zurück zu Storm und Husum. Jetzt lese ich die Novellen ganz anders und er schildert seine Stadt doch richtig. Er nennt die Stadt schmucklos, dann wieder die Häuser alt und finster, das Strassenpflaster schlecht und die Kirche schildert er so: An Stelle des altehrwürdigen Baues stand jetzt ein gelbes, hässliches Kaninchenhaus mit zwei Reihen viereckiger Fenster, einem Turm wie eine Pfefferbüchse und einem abscheulichen, von einem abgängigen Pastor verfassten Reimspruch über dem Eingangstor, einem lebendigen Protest gegen alles Heidentum der Poesie. (Wie heisst der Spruch?) Ich habe mir wohl immer die grossen Buchstaben besehen, aber den Spruch nicht gemerkt.
Und trotzdem sind die Novellen von einer entzückenden Stimmung und Behaglichkeit. Auch das elterliche und grosselterliche Haus schildert er so und in dem elterlichen Haus in der Hohlen Gasse ist hinten im Hof immer noch, durch drei Stufen von dem Steinpflaster getrennt und umgeben von einem kleinen Zaun, der Garten, der früher wohl gepflegt war. Dahinter muss dann ganz früher noch etwas erhöhter, ein grösserer Garten gewesen sein, der im Rockockostil gehalten war.
Der Schauer ist vorbei und alle sind Gottseidank ausser Jürgen, wieder draussen. Ürgen stört mich erheblich und wenn ich ihn ermahne, dann kauderwelsct er lange Sätze, die einen sehr vorwurfsvollen Ton haben. Das hat er sich
während meiner Abwesenheit angewöhnt.
In der nächsten Zeit wirst Du wohl keine langen Briefe von mir bekommen, Pappi, so gerne ich es möchte. Aber ich muss mich mal ganz auf die Arbeit hier einstellen..
Morgen kommt Heidi nun in die Schule. Um acht Uhr müssen die Neulinge da sein. Blödsinn, wenn es keinen Alarm gibt. Aber der wird ja wohl sein. Heute Nacht habe ich nur in weiterer Entfernung, Königswinter oder so, welche fallen gehört. Wir hatten aber alle Kinder vorsichtshalber in den Keller getan. Ich habe Schreiner Radermacher auch beauftragt, unseren Keller abzustützen, denn besser ist besser.
Ich habe gestern Edith Vogel angerufen. Charly ist vor Odessa. Ilse Gesler wird mit ihrer Mutter für die nächste Zeit nach Kärnten gehen. In der Vesdepzeitung steht, dass Bagel aus Düsseldorf gestorben ist. Das ist das Neue.
Heute morgen war ich bei Frau Hillenbrand und habe das Kleine bewundert. Es hat einen Schopf pechschwarzer Haare.
Was magst Du wohl heute machen? Aber wahrscheinlich hast Du ja Dienst. Grüße doch bitte alle, besonders Lichtschlags. Und wenn Ihr mal in Obsens Hotel gehst, frage dort, ob im Zimmer nicht ein brauner Lederhandschuh gefunden worden ist. Ich hatte beide eingepackt, das weiss ich, aber ich habe ja nochmal gekramt und da ist es möglich, dass einer wieder aus dem Koffer gefallen ist. Und wenn Du es wagen würdest, mir noch einmal Strumpfhalter (am besten vier Stück) zu besorgen, wäre es auch sehr schön. Hier gibt es immer noch keine. Und halten tun sie doch.
Ich bin sehr gespannt auf Deinen nächsten Brief und was darin wohl neues stehen wird. Und wenn es kleine Zettelchen sind, ich warte sehr drauf.
Gestern habe ich einen Brief von unserem Herrn Schüler bekommen. Ich hatte ihm auf seinen damaligen zwar noch nicht geschrieben, aber er schrieb, dass er dort mitten im Krieg an die „unvergesslichen Wochen“ und an mich denke (an unsere Unterhaltungen blos, Pappi) und dass er das für einen Grund halte, einen Brief zu schreiben. Jetzt muss ich ihm aber doch antworten, denn ich kann mir denken, dass man da oben in Russland noch viel nötiger Post als irgendwo sonst braucht. Er ist östlich von Smolensk.
Ich lege Dir zwei Briefe bei, die auch inzwischen gekommen waren und gebe Dir jetzt einen lieben Kuss, nein, viele liebe Küsse, einen immer lieber als den anderen. Ich selber muss mich jetzt um das Abendessen der Trabanten kümmern. Und wenn ich nachher Zeit habe, erlebe ich immer wieder unsere Tage in Husum in Gedanken und Bildern.
So, eigentlich sollte der Brief jetzt zu Ende sein, aber so ein kleines bisschen schreibe ich doch noch, damit ich bei Dir bin.
Ich habe hier sofort versucht, die Zeitung ´Das Reich´ zu abonnieren, es ist mir aber leider misslungen. Die Zeitung ist um 40% reduziert worden, und was davon erscheint, ist schon fest bestellt. Ich muss nun sehen, was ich für diesen Winter fest bestelle, denn irgendeine aktuelle und interessante Zeitschrift möchte ich doch für die langen Winterabende, an denen es ja der Dunkelheit wegen nichts anderes gibt, doch haben. Oder soll ich die ´neue Linie´ bestellen? Sonst, wenn ich mal Lust hätte, sie zu holen, wird es mir dann wohl auch so gehen. Oder weisst Du vielleicht eine vielseitige oder interessante Zeitung oder Zeitschrift, bei der es sich lohnt?
Oben im Schlafzimmer der Kinder ist es noch wie in einem Bienenhaus. Ich glaube, die Erregung des ersten Schultages lässt die Gören nicht schlafen. Und Helga sagte heute merkwürdigerweise: „Ich freue mich, dass mir der Bauch weh tut, auf die Schule morgen.“ Sie will um keinen Preis auch nur einen Tag länger Ferien haben, die sind ihr zu langweilig. Und Heidi meinte heute: "Wenn mir eine Stunde zu langweilig ist, dann frage ich einfach die Lehrerin, ob ich aufs Klo darf, und dann bleibe ich lange da.“ Sie weiß sich also zu helfen und hat ihren Plan, wie sie sich durch die guten und bösen Zeiten durchlavieren will, in ihrem kleinen Kopf.
Heute habe ich doch gemerkt, dass ich mich erholt habe. Ich hatte heute nachmittag die Kinder allein und habe sie auch alle fünf ins Bett gebracht. Während ich vor der Reise an einem solchen Nachmittag innerlich furchtbar kribbelig war und ebenso innerlich in einem fort heulte, hatte ich heute die Ruhe weg. Nichts konnte mich erschüttern und aus der Fassung bringen, und dadurch ging alles viel besser. Und alle sagen auch, dass ich sehr viel erholter aussähe und die Müdigkeit aus meinem Gesicht verschwunden sei.
Bei Christiansens wird es heute abend wohl wieder sehr voll sein und unser hübsches kleines Zimmer ist von anderen Leuten bewohnt. Ist es noch kalt dort? Hier haben wir die übliche Schwüle, allerdings auch schlechtes Wetter.
Und nun Schluss. Ich habe mir einen Berg kleiner Flickereien von oben mitgenommen, und es ist neun Uhr. Ich küsse Dich, Din Lött