Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 2. November 1941
den 2.11.41
Lieber Harald!
Es ist spät, aber ein paar Worte sollst Du doch bekommen. Ich war die letzten Tage nicht in guter Stimmung, so dass die Briefe Dir keine Freude gemacht hätten. Briefe schreibe ich aus dem Impuls heraus, aber ich wollte Dir doch nicht zu knöttrige Briefe schreiben, darum ließ ich es lieber ganz.
Meinst Du nicht auch, dass wir jetzt ziemlich nahe am Krieg mit Amerika sind? Ich war gestern abend richtig bedrückt und sah auch schon den nächsten Kriegswinter und unsere lange Trennung. Schreibe mir, was Du davon hältst. Wenn dann noch Japan dazukommt und vielleicht auch die südamerikanischen Staaten, kann die Sache noch länglich werden.
Ich war so traurig, dass ich nicht allein einschlafen mochte und deshalb habe ich mir Heidi ins Bett geholt. Ich habe ja die Auswahl, wer zu meiner Stimmung am besten passt, und ich muss sagen, das Kind ist so feinfühlig und achtet so darauf, mir Freude zu machen, dass ich bei ihr am besten Trost fand. Unter ihrer fröhlichen Schale ist ein überaus empfindlicher Kern, mehr wie bei Helga. Vor ein paar Tagen stürzte mal wieder allerlei über mir zusammen, und ich saß ziemlich unglücklich auf der Couch, mitten zwischen den Fünfen. Da kam Heidi, legte ihren Kopf an meine Schulter, ganz still. Ich legte dann den Arm um ihre Schulter, und da geriet das Kind in ein fassungsloses Schluchzen und schüttelte sich vor Weinen und gestand dann, das sei bloß, weil ich ihr so leidtäte. Es war rührend.
Jetzt hat sie sich in den Kopf gesetzt, Kindergärtnerin zu werden, aber eine mit einen Kinderheim, und sie hilft mir jeden Abend so nett beim Ausziehen der Kleinen, dass es eine große Freude ist. Dann schickt sie mich meistens weg: „Du kannst Dich auf mich verlassen, Mutti, ich mache das schon richtig". Helga würde das nie tun, die träumt in die Gegend und ist auf einem anderen Stern, und wenn man nach einer halben Stunde wiederkommt, ist sie keinen Deu weiter.
Aber Du müsstest auch mal sehen, wie geschickt Heidi das macht. Z.B. Klaus. Den fetten, dicken Kerl zieht sie aus, legt ihn dann splitternackt auf das Kindertischchen und schrubbt ihn ab.
Heute nachmittag war ich mit den drei Großen an Tante Gretes Grab. Auf dem Rückweg flog vor uns ein großer Vogel mit etwas schwerem Flügelschlag auf. Helga fragte: "Mutti, wenn ich
mal Engel bin, dann habe ich ja auch Flügel, flattere ich dann auch so mit den Flügeln?“ Ich bejahte das, worauf sie nachdenklich meinte: "Ich finde, das sieht aber gar nicht gut aus.“
Und nun mache ich Schluss, denn Du solltest doch blos einen Brief von mir haben.
Wo sollte ich den Mantel denn sonst verkaufen? Ich kann das nämlich nicht gut und
viele Küsse, Deine Lotti.