Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 9. November 1941
den 9.11.41
Mein lieber Mann!
Ich möchte den Samstagabend mit Dir teilen, trotzdem ich zum Schreiben eigentlich keine Lust habe. Weil Alarm ist, bleiben wir sowieso auf, und ich habe mich ganz nah an den Ofen gesetzt, weil ich fröstele, teils aus Müdigkeit wegen der vorigen langen Nacht und vom vielen Laufen.
Dieses geradezu animalische Behagen an der Ofenwärme macht mich wunschlos glücklich. Leider fängt aber in Bonn die Flak wieder an und damit auch die Spannung in einem.
Wie ich mich oft nach Dir sehne als Zuflucht, als Ratgeber und dem, der alles Wirrsal richtig und männlich löst, ist toll. Und trotzdem kannst Du mir nicht überall helfen. Z.B. quält mich sehr der Gedanke, wie die Sache E. wohl zum Abschluss gebracht werden soll, wenn Du vielleicht weit in den Süden und somit unerreichbar für mich bist. Gibt es eine Lösung? Es belastet mich seelisch ausserordentlich.
Augenblicklich weiß ich nicht viel. Meine Konzentration zum Schreiben ist abgelenkt durch das Horchen auf die Flieger. Die Kinder schlafen noch in ihren Bettchen. Sie sind heute abend gebadet worden, und im Kinderzimmer ist es, weil ich da diesen Winter nicht heize, ziemlich kalt. Die Kinder sind immer wieder mein ganz großer Trost und mein ganz großer Ärger, je nachdem. Morgen, am Sonntag, habe ich sie wieder allein, und wenn ich dann nichts anderes zu tun habe, als sie zu versorgen, ist es wunderschön.
Heute ging ich mit Ursel die Treppe runter, und sie legte ihre Hand in meine, wie sie es besonders gerne tut. Es war, als wenn man ein Blumenblättchen zwischen den Fingern fühlte, so zart und zerbrechlich.
Die Gänge in die Stadt werden immer zeitraubender. Jetzt gewöhnen sich viele Geschäfte an, morgens geschlossen zu halten oder einen Tag ganz zu schließen, und dadurch muss man oft wegen einer Kleinigkeit den doppelten Weg machen. Auch Linz öffnet jetzt erst den Laden nachmittags. Ob Du wohl diese Woche das ´Reich´ bekommen hast? Du hast mich richtig daran gewöhnt, und mittwochs warte ich schon auf das Blatt.
Das Feuer gestern war toll. Die drei Fabriken waren ein einziges, hellrot leuchtendes Flammenmeer, begrenzt von den schwarzen Silhouetten der ausgebranntem Mauern, und das Ganze spiegelte sich im Wasser wieder.
Man wird in diesem Jahr hin- und hergerissen zwischen Sorgen, Grauen und Ansätzen zur Weihnachtsstimmung. Die letztere ist z.B. da, wenn ich die Adventskalender sehe. Oder wenn ich eine Bach'sche Invention spiele. Übrigens die einzige im
Hause, die sie schätzt ist Helga. Sie kommt dann ganz leise, setzt sich zu mir und sagt dann: "War das schön, spiel das doch nochmal". Worauf Klaus dann wiederum meinte: "Nee, schön ist das nicht, Soldatenmusik ist schöner".
Um bei Weihnachten zu bleiben: Ich möchte mir am liebsten selber etwas schenken, habe auch einen Wunsch und wage als vernünftige Mutti nicht, Geld für Überflüssiges, was ja ein Weihnachtsgeschenk immerhin wäre, auszugeben. Aber so abgeklärt bin ich noch nicht, dass ich auf einen Weihnachtstisch für mich gut verzichten kann, das ist aus meiner reichlich kindlichen Einstellung zum Weihnachtsfest noch hängen geblieben. Weihnachten feiern muss ich und möchte ich, und das täte ich auch, wenn ich ganz allein wäre. Und so ganz leise Weihnachtsstimmung bekomme ich schon für mich allein, wenn ich anfange, die zerbrochenen Puppen zusammenzusuchen und für Jürgen das alte Schaukelstühlchen. Ich darf es bloß keinem sagen, sonst mache ich mich lächerlich.
Aber wenn Du schreibst, dass ich sorgen soll, dass ich Nüsse bekomme, muss ich lachen. Die gab es doch voriges Jahr schon nicht mehr, oder vielmehr, ich hatte ein halbes Pfund für alle neun Personen bekommen, und gegolten hatten sie eigentlich bloß für die Kinder, und gegessen hattest Du sie, glaube ich. Ich mache mir sowieso nichts draus, und Du freutest Dich so. Aber was an mir liegt, bekommen die Kinder ein so schönes Weihnachten wie immer. Die Hauptgeschenke bilden Lindes Kaufladen, die Reichsautobahn und alle alten Puppen und Bettchen neu aufgemacht.
Ob Du Weihnachten noch in Wangeroog bist? Und ob Du vielleicht dann doch Urlaub bekommst? Irgendwie ist es mir undenkbar, dass Du nicht da sein sollst, und wenn es wieder Silvester ist. Wie oft stelle ich mir den Augenblick vor, als ich mich enttäuscht vom Fenster abwandte, weil der Briefträger vorbei ging, und Du standest da. Und dann kam Dein Bad mit der köstlichen Aussicht, fünf schöne, lange Tage vor sich zu haben. Ach, war das schön.
Nun ist es halb elf, entwarnt ist noch nicht, aber es ist ein harmloser Alarm, und hoffentlich wird er nicht mehr schlimm. Ich werde es wohl wagen, ins Bett zu gehen. Hurra!!!!!!!!!!! die Entwarnung!!!!!!!! Ich gehe in die Heia.
Viele, viele Küsse, Deine Lotti