Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 18. Januar 1942
den 18.1.42
Mein lieber Mann!
Die Fettflecken musst Du entschuldigen. Wegen sowas kann man heute keinen Briefbogen mehr wegtun, und im Übrigen waren es Deine Kinder.
Kläuschens Geburtstag ist nun auch vorbei, ziemlich sang-und klanglos, weil wir keine Kinder eingeladen haben. Und die große Kälte hindert auch alles andere etwas. Auch die Kinder drücken sich am liebsten um den Ofen im Wohnzimmer herum, weil es da im Raum immer noch am wärmsten ist. Im Übrigen stecke ich sie jetzt abends früh ins Bett, und bei der großen Kälte verlangen sie auch danach. - Nun freut sich Klaus auf die Soldaten. Ich hatte ja auch noch einige Bilderbücher in Reserve, aber es wird noch mehr Geburtstage in diesem Jahr geben, und im Übrigen sollen sie erst die vielen Bücher, die sie oben haben, kurz und klein lesen. Kuchen konnte ich auch nicht backen, weil wir keine Eier hatten. Die letzten waren ja vor Weihnachten ausgegeben und danach nicht wieder. Aber ich habe Hefeteilchen besorgt. Von Rechts wegen müsste ja ein Geburtstag des Thronfolgers ganz anders behandelt werden. Wenn Du wieder da bist, wird alles viel schöner.
Die Kälte ist wirklich doll. Weil unser Haus diesmal nur durch die Öfen geheizt wird, ist es schandbar kalt auf den Flur. Bisher haben aber gerade die Kinder nicht viel durch die Kälte mitbekommen, ausgenommen Jürgen, der mal wieder fünfmal am Tag Bu in der Hose hat. Aber das können auch die Zähnchen sein.
Du fragtest heute, wie ich den Betrieb ohne Mädchen überstehe. Also, Du brauchst wirklich keine Sorgen zu haben. Manchmal wird es wirklich doll, und manchmal, so am Ende der Woche, wenn das ganze Hans blitzblank ist und die Kinder dazu, heule ich zum Abschluss ein bisschen, teils dieserhalb, teils außerdem. Aber das vergeht dann auch wieder. Na ja, und jetzt kann ich Dir ja auch sagen, dass das Wort von der Krise die paar Tage in mir gearbeitet hat und ich das auf uns bezogen habe. Wenn es wirklich so wäre, würde ich Dir gegenüber versuchen, jedes Verständnis aufzubringen, weil ich ja nun die meisten Fälle nicht nur von meiner Seite, sondern auch von der des anderen Teils betrachte. Was ich dann aber für mich allein abmache, ist meistens nichts so logisch.
Die Mu kommt vorläufig nicht, ‘die große Kälte‘ lähmt sie, so dass sie keinen Entschluss fassen kann. Das ist die Mu. Na, nun stand ja gestern auch in der Zeitung, dass eine neue Verkehrs-einschränkung kommt, nun wird eine Reise vorläufig ja erst im Frühling nach uns starten. Ich bin bloß froh, dass Deine Mutter im Allgemeinen so gut gelaunt ist und so freundlich und vergnügt gegen mich wie selten. Mit Ausnahmen, aber das schiebe ich auf Konto Überreizung.
Dass Ihr zum Schutz der Deutschen Bucht da bleibt, finde ich hundertprozentig schön. Dass die Sicherheit nicht auch hundertprozentig ist, ja, dafür ist eben Krieg, und damit muss ich mich abfinden. Aber dass ich Dich im nächsten Frühjahr nicht in irgendeinem dieser Affenländer weiß, ist sehr schön. Denkst Du immer noch an eine Reise meinerseits im Frühjahr, auch wenn Ihr nicht wegkommt? Ihr Männer
seid ja doch große Kinder. Strenger ist z.B. vor zehn Tagen nach Arnsberg abgedampft, und nun hat er telefoniert und geschrieben, und Frau Strenger musste ihn schon wieder besuchen. Und Frau Gesler ist doch auch erst vor vier Wochen aus Schlesien zurück-gekommen, und nun quält er schon wieder, sie solle kommen. Sie fährt nun im Februar. Und alle Frauen sagen dasselbe: Was denkt sich so ein Mann? Erstens haben wir den Haushalt, die Kinder und zweitens nicht so viel Geld, um andauernd so weite Reisen, zu machen. Und was machen wir Frauen? Wir setzen uns in den nächsten Tagen auf den Zug und fahren.
Ich selber sitze abends müde im Lehnstuhl am Ofen und freue mich wie selten an meinem Bücherregal. Ich liebe es förmlich. Ich habe jetzt eine ganze Reihe von Büchern gelesen, die alle den Kreis um Goethe betreffen, etwas was mich immer besonders interessiert hat, das Leben in Weimar. Angefangen hat es mit dem Roman August und Ottilie, dazu las ich dann Stellen aus „im Schatten der Titanen, dazu lieh ich mir ein buch von Frau Hillenbrand „Wanderungen mit Goethe und gestern entdeckte ich in der Leihbücherei ein Buch, Tagebuchblätter und Aufzeichnungen der Kaiserin Augusta, die ja eine Weimarer Prinzessin war, noch viel mit Goethe zusammengekommen war und die intimste Freundin Jenny von Gustedts war. Und dazwischen lese ich dann Goethe selbst. Ich muss sagen, diese Abende nach der vielen Arbeit sind ein vollkommener Genuss und durch dieses Lesen kommen einem neue Erkenntnisse über Leben und Menschen. Wenn ich so einen Abend mit Genuss durchgelesen habe, bin ich so glücklich, dass es mir unfasslich ist, dass man eines Tages nicht mehr sein sollte, bloß um dieses Glück nicht mehr spüren zu können. Es ist dies eine Mischung aus Ehrfurcht, Glück und Feierlichkeit und vorderhand ist dies alles zu nichts weiterem gut, als dass ich am nächsten Morgen mit völlig neuer Lust an meine Arbeit gehe. Zu viel mehr wird’s ja bei mir auch nicht langen, aber meine Hochachtung vor geistig schaffenden Köpfen wird doch immer grösser. Manchmal wird meine Liebe zu Büchern so stark, dass ich meine, alles andere wie Kränzchen und derartiges sei langweilig im Besitz solchen Schatzes. Aber dann wünsche ich mir doch wieder mit aller Macht, das lebendige Leben zu erleben (auch nicht gerade im Kränzchen), sodass mir das Erleben in Büchernn als Schatten des richtigen vorkommt.
Weisst Du, ich wünsche mir ja doch noch einmal eine recht schöne Goetheausgabe in einem schönen Druck. Denn man liest auch Einband und Druck mit, und es erhöht den Genuss.
Und jetzt ist dieser Brief wieder sehr lang geworden. Langweilt es Dich auch nicht? Ich habe übrigens vor ein paar Tagen einen genau so langen Brief an Heinz Schilling geschrieben als Antwort auf seinen Weihnachtsgruß .Ich denke, dass man in Russland gerne Post bekommt. Überhaupt bin ich beinahe mit aller Post, die ich zu Weihnachten bekommen habe, durch. Aber eins bleibt liegen: Die Verwaltungssachen. Ich habe gerade fertiggebracht, die Steuern zu überweisen, und damit hat‘s aufgehört.
Ich weiß nicht, wann ich die Zeit dazu aufbringen soll, außerdem ist es im Büro so kalt, dass ich mich noch nicht mal zum Ordnen darin aufhalten kann, und die kurze Abendstunde von neun bis zehn muss ich zur Entspannung haben. Am Tag ist überhaupt kein Denken dran. Und so Sachen wie Kohlen holen, alle Fußböden in Zimmern und Flur schruppen, also insgesamt die grobe Arbeit macht einen, weil ungewohnt, sehr müde, alle andere Arbeit, die der Tag so mit sich bringt, ungerechnet. Der Vergleich mit Frauen aus dem Volk, die ja auch keine Hilfe haben, ist nicht ganz am Platze, weil die erstens sich auf ein Mindestmaß an Wohnung beschränken, auch von Geschirr, zweitens die Sache von Jugend auf gewöhnt sind und drittens
nicht darauf Rücksicht zu nehmen brauchen, dass sie auch bei der gröbsten Arbeit zu jeder Zeit ihr Aussehen nicht vergessen dürfen. Ich bin bloß froh, dass alles so klappt. Viele liebe Grüße, Deine Lotti