Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 18. Oktober 1942
den 18.10.42
Liebster Harald!
Heute morgen kam Dein Telegramm zu Heidis Geburtstag. Sonst nichts. Ich weiß nicht richtig, was ich davon halten soll, denn ich hatte Dich doch gebeten, sofort zu schreiben. Meine Angst wirst Du doch wohl verstehen können. Wenn ich mir dann genug den Kopf zerbrochen habe und die Gründe durchgegrübelt habe, weshalb Du nicht schreibst denn Du hattest sowieso vergangenen Mittwoch vor acht Tagen zum letzten Mal geschrieben), tröste ich mich zum Schluss doch immer wieder damit, dass Du mir hilfst.
Wenn der Brief von gestern etwas kurz und ziemlich verzweifelt klingt, musst Du Dir die Situation vorstellen: Kurz vor sechs, der letzten Postkastenleerung. Von Dir war wieder nichts gekommen.. Ich selber habe durch Temperatur und Schnupfen einen fürchterlich vernebelten und schwindeligen Kopf, lief rasch aus dem Bett nach unten um Dir zu schreiben, fand den Brief vom Wasserwerk, die sich auf einer eng beschriebenen Seite Mühe geben, Dir zu beweisen, dass es lediglich seit zwei Jahren durch Deine Schuld und Fahrlässigkeit als Hausverwalter möglich gewesen sei, die Sache in der Quellenstrasse laufen zu lassen wie sie läuft und den Mangel nicht schon vor zwei Jahren abgestellt zu haben und im selben Augenblick legte sich Helga mit 39 Fieber und das regt mich immer sehr auf, weil ich sofort die tollsten Krankheiten sehe. Und das alles im üblichen Durcheinander vor sechs Uhr, bevor die Kinder aufräumen und essen müssen mit allem was zwischenfällt.
Kannst Du Dir vorstellen, dass Din Frau dann losheulen möchte. Gegen sieben ordnet sich dann das Häuslich ja alles, aber die Sorge um das Andere bleibt.
Ich bin nun heute aufgestanden, weil Heidi erstens Geburtstag hat und weil ich wieder überall dabei sein möchte. Einen Knallkopf habe ich noch immer.
Draussen giesst es und es könnte wunderbar gemütlich sein, aber die Kleinen sind noch für solche Stimmungen zu klein. Sie brüllen und blöcken abwechselnd durchs Haus, d.h. augenblicklich sind sie bis auf Jürgen in der Kirche. Helga hat Fieber und Kopfschmerzen, es wird ja wohl nur eine Grippe sein, hoffe ich. Jetzt habe ich sie in Dein Bett gepackt.
Was ich mit Heidi heute mittag anfange, weiß ich noch nicht. Einen Geburtstagskaffee mit Kindern wollte ich nicht schon wieder machen, und Heidi ist so lieb und bescheiden und viel zu zartfühlend, um dagegen Sturm zu laufen. Ich weiß noch nicht mal, ob es ihr leid tut, sie zeigt es wenigstens nicht. Ich hatte eigentlich vor, einen hübschen Spaziergang mit Kaffeetrinken und schönem Wetter zu machen, aber dadurch haben Wetter und Krankheiten einen Strich gemacht. Ich muss mal sehen. was ich mache, gerade, weil sie so lieb ist.
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag hatten wir einen starken Angriff in unserer Ecke. Ich wollte zuerst nicht aufstehen, aber wie über Bonn ein ganzer Christbaum stand sind wir allzumal runter und waren auf jeden Zwischenfall gefasst. Aber dann wurde es doch nicht so. Die Hauptsache spielte sich rechtsrheinisch ab, der Himmel war feuerrot, und die Oberkasseler Badeanstalt hat auch dran glauben müssen. In Dollendorf war ein Torpedo runtergekommen. Es müssen auf der anderen Seite und vielleicht auch auf dieser ziemlich viele Bomben gefallen sein, nach den Erschütterungen und dem häufigen Luftdruck zu schließen. Bei uns sind keine Scheiben kaputt, wohl in verschiedenen anderen Häusern. Helga hat sich entsetzlich aufgeregt, sie war fast von Sinnen, und vielleicht kommt das Fieber auch nur von dieser Aufregung. Die anderen waren wieder völlig unbeteiligt.
Merkwürdig, woran man alles in solchen Minuten denkt. Man hat in den Augenblicken der wirklichen Gefahr eine gelassene Ruhe (wenn man vorher auch auf dem Clo war) und dann hatte ich gedacht, was Du eventuell noch von uns zu sehen kriegtest, und ganz schnell dachte ich auch, dass die auf dem Landratsamt in Bonn am anderen Morgen vielleicht anderes zu tun hätten, als auf mich zu warten. Ein Gefühl wie ein Schulkind, das die Aufgaben nicht gemacht hat. Und wenn das Ich bocken will, dass man vielleicht zu früh von dieser Erde wegmuss, und dann hab ich mir die Führerrede und wofür das sein muss, vorgehalten. Aber das muss man sich wirklich und sozusagen maschinell bejahen, das Gefühl spricht ein bisschen anders. Einsehen tut man's ja schließlich. Hinterher sind wir dann voll Behagen in unser molliges Bett gekrochen.
Ich habe zu Ehren von Heidis Geburtstag einen Pudding gekocht mit Krutsche-krutsche-Mandeln drin. Deine Mutter ist in der Kirche und bringt dann jedes Mal Neues von Zunn mit. Der Gute hat der Gemeinde doch einen richtigen Schock versetzt. Er ist nämlich schon seit sechs Jahren ein bisschen neben der Ehe hergelaufen, doch wurde es immer wieder mit dem christlichen Mantel zugedeckt. Und dann hat er dem Konsistorium gesagt, nach dem Kriege müsse sich das Christentum sowieso auf sein Ursprungsland Palästina beschränken. Für einen Pastor immerhin ein Satz (weißt Du was ich möchte? Zunn mal von innen sehen und was hinter seinem pastoralen Äußeren wohl gesteckt hat) Eine sehr männliche Haltung scheint das Ganze nicht zu haben.
Und jetzt, nach dem Kaffeetrinken, setze ich mich wieder zu Dir. Es ist ein wunderhübscher Nachmittag, um zu Zweien zusammenzusitzen. Die Dämmerung ist früh gekommen, und aus der Dämmerung leuchtet die Städtetafel des Radios. (Zum Donnerwetter, Jürgen lässt mich nicht schreiben, immer wieder schiebt er die Walze von der Schreibmaschine zurück, gleich kriegt er ein paar auf die Pfoten.) Und ich muss sagen, ich genieße es, dass an diesem gemütlichen Nachmittag meine Sprößlinge nicht sichtbar sind - (- Der Bengel lässt mich nicht schreiben. Er hält immer wieder die Walze fest. Ich erzähle ihm, wie schön er bei seinen Spielsachen spielen kann, aber er sagt nee und stört heftig weiter.) Störangriff. Das ist übrigens der richtige Ausdruck für vieles, wenn die Bande nach Hause kommt und sich beutelüstern und tatendurstig auf alles stürzt, was sie brauchen kann.
Ich habe beim Aufräumen der Bücher Deines Vaters einen Jahrgang 1901 „Überall“ irgendeiner Flottenzeitschrift gefunden. Ich glaube, dass er als Buch aufgehoben keinen grossen Wert hat, aber für Klaus ist das ein Schatz. Keinen Abend geht er ins Bett ohne diesen dicken Wälzer, er lässt sich sogar früher deswegen reinbringen und das finde ich sehr angenehm. Kein Bilderbuch ersetzt ihm auch nur halb dieses herrliche Buch mit den vielen Schiffen und der Marinesoldaten.
den 20.10.42
Eben bekomme ich die neue Wasserrechnung von der Quellenstrasse. 37,60. Ich habe eben wieder mit dem Tiefbauunternehmer Horn gesprochen, nachdem ich gestern wieder das Gaswerk angerufen hatte, es ist noch kein Anruf bezw. Auftrag von dort da. Ich will das nur feststellen, damit mich keine Schuld trifft.
Von Theo kam heute eine eng beschriebene Karte. Der hat ja Glück, bleibt sozusagen als einziger der Batterie, die nach Russland ausrückt, hier bzw. in Pilsen. Er schreibt, dass Wilhelm begeisterte Briefe aus der Ukraine schreibt. Er wird wohl die kleinen Mängel übersehen und das große Ganze sehen, und das imponiert mir, überhaupt die ganze Einstellung.
Nun muss dieser endlose Brief fort. Ich habe Dich lieb und hoffe auf einen mindestens halb so langen.
10000 Küsse
Deine Lotti