Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 31. Januar 1943
den 31.1.43
Mein liebster Mann!
Der 31. soll doch nicht vorbeigehen, ohne dass ich Dir geschrieben habe. Damals, um diese Zeit standen wir gerade zwischen standesamtlicher und kirchlicher Trauung. Und diesmal ist nun kein Mann da, mit dem man feiern könnte, ich habe aber heute morgen wenigstens endlich wieder einen Brief von Dir bekommen, den ersten, seit Du in Stade angekommen bist. Ist das nicht ein bisschen wenig? Aber ich lese diesen dafür dreimal und noch öfter. Du hast recht, das Ergebnis dieser zehn Jahre ist doch ein sehr schönes, abgesehen von den Sorgen pekuniärer Art, die uns nun mal beschieden sind. (Die Mu hat mir nach langem Kampf 400,- Mk. geliehen, die ich ihr mit monatlich 100,- Mk. zurückzahlen muss. Viel weiter bin ich also nun doch nicht und habe nun monatlich eine ganze Menge abzuzahlen. Bitte, lass Dir das weitere durch den Kopf gehen. Kannst Du monatlich gar nichts entbehren und wenn es nur ein kleiner Betrag wäre als Zuschuss zum Haushalt? Denn ich muss ja mit den 800 .- Mk. nun doch allein fertig werden und es macht mir viel Sorgen und Druck auf die Seele.)
Dies und die so ernste Lage und der Gedanke an die Stalingradkämpfer zusammen ist so erdrückend, dass ich eigentlich fröhlich augenblicklich gar nicht sein kann. Nur im Zusam-mensein mit den Kindern vergisst man für Augenblicke die ganze Not der Zeit. Frau Hillen-brand ist so glücklich, dass sie ihre Margot hat, sie verzehrt sich fast vor Angst um ihren Mann und versucht, mit dem Gedanken fertig zu werden, dass sie ihn wohl nie wiedersieht. Er
ist ja bei Stalingrad. Manchmal, wenn ich sie nachmittags besucht habe, bittet sie mich, doch ja abends wiederzukommen oder am besten gleich dazubleiben und mit ihr zu essen, weil sie es allein kaum aushält und weil sie so allein schon gar nicht mehr isst.
Ilse Düren, die vorgestern bei mir war, geht es ähnlich. Theo ist ja wieder bei seiner Sturmbatterie bei Woronesch. Sie hat bis jetzt keine Feldpostnummer und kann ihm deshalb nicht schreiben. Hillenbrand hat in all den Monaten (Ende August bis jetzt) erst einen einzigen Brief seiner Frau bekommen durch Luftpost. Sie hat auch erst einen Brief bekommen und wartet seitdem auf Nachricht.
Das Ganze ist augenblicklich so erdrückend, dass ich noch nicht einmal Bachmusik oder Goethe-Gedichte vertragen kann, diese Klarheit und festliche Heiterkeit passt so gar nicht zu all dem Grauen und Irrsinn, wie es jetzt in der Welt ist. Jetzt verstehe ich auch, wie Du sagst, dass Soldaten oft nur Tanz-und Schlagermusik hören wollen, es ist Betäubung, und das andere einen vor die Frage stellt, und weil man keine Antwort drauf weiß, und wenn man darüber nachdenken will, man genau so verrückt werden kann, als wenn man über die Unendlichkeit nachdenken will.
Ich erzähle lieber von den Kindern. Jürgen geht jetzt manchmal mit mir in die Stadt und stellt sich in Geschäften vor mich hin, hält mich fest und sagt prahlerisch und kampflustig zu den anderen Kindern: "Du, das ist meine Mutti, niss deine." Und dann dreht er sich um, hält mich lieb und sagt: "Meine allerliebste Mutti, nä?"
Und nun lege ich Dir einen Aufsatz bei, den Helga über Ernst Moritz Arndt geschrieben hat. Ich habe ihn
heimlich aus ihrem Heft abgeschrieben. Frl. Bennewitz hat ihn mit sehr gut zensiert.
Am Donnerstag hatte ich kurz entschlossen endlich mal einen Kaffee gemacht und hatte Frau Stein, Frau Sprock, Frau Hillenbrand und Frau Schwinger eingeladen. Es war sehr hübsch, und ich hatte doll leckere Kuchen. Einen Hefekuchen, mit Zucker und Zimt bestreut, und dann einen Käsekuchen mit wunderbar mürbem Boden und rahmgelben Käse drauf (alles ohne Ei und zusammen 40 Gr. Fett). Im übrigen Pfusch mit Gries, Vanillepuddingpulver statt Eigelb usw. und Toast mit selbstgemachter Apfelsinenmarmelade, nur aus den Schalen zubereitet, aber herrlich schmeckend. Das merkt man daran, dass alle ausser den Kuchen noch drei Scheiben Toast mit Butter und Orangenmarmelade assen. Um sechs gab es dann die letzte Flasche Rotwein. Aber es war ganz wunderschön, und alle waren froh, dass in das Grau des Alltags endlich mal wieder was anderes kam.
Eine andere Frage: Im Keller liegen die vielen langen Schilder, die Du ja wohl nicht mehr brauchen kannst. Soll ich sie verkaufen, damit der Trockenkeller leerer wird. Sie stören entsetzlich, und wir wollen den Keller ausräumen und den Schrank, der noch auf dem Speicher liegt, unten aufschlagen lassen und allerlei im Frühjahr nach unten tun, Kleider, Anzüge, Tischwäsche und wenn es nötig wird, auch das gute Essgeschirr und das Silber. Wer weiß, wie nötig uns noch der Kellerraum werden wird. Nun müssen auch hier die Mauerdurchbrüche gemacht werden, in allen aneinandergebauten Häusern.
Im Hause selbst ist es jetzt sehr gemütlich. Omi Endemann ist seit Wochen so ausgeglichen und ohne Nerven, wie ich sie so lang andauernd nie gekannt habe. Ich glaube, der
Graus draußen macht beide Omis dankbarer dafür, wie gut sie es in einer großen Gemeinschaft haben. Gradmesser: Der Kampf, der jahrelang um den Grünkohl tobte, hat sich entschieden: Omi Endemann kocht ihn selber nicht mehr ab, weil er 'das letzte Mal so gut geschmeckt' hatte und sie das früher nicht so empfunden hatte. Und das, nachdem ich, als Du hier warst, entschieden hatte, sie solle ihn, wenn sie kochte, nach ihrem Wunsch abkochen. Und so ist augenblicklich das ganze Zusammensein im Haus. Alles ist leicht und ohne Kämpfe.
Heute ist Lisbeth nun nicht da, und ich muss mich also um Kinder und Haus kümmern. Vielleicht gehe ich mit einem Teil von ihnen spazieren, denn das Wetter ist hübsch. Es werden dann wohl die Kleineren werden, denn die Großen bekommen sicher wieder Besuch von Tulita und sind dann höchst empört, wenn ich sie aus ihrem Spiel reiße.
Thea und Hans sind nun in Bayrisch-Zell, beiden wird ja wohl der Urlaub etwas verdorben werden durch die Aussicht, die beiden droht. Denn Hans muss unter Umständen vielleicht doch noch zum Militär, und Thea gehört ja unter die Frauen mit nur einem schulpflichtigen Kind. Werden dann die Mädchen auch aus den Haushalten rausgezogen? Denn es wäre doch ein Irrsinn, die Mutter aus einem Haushalt zu nehmen und das Mädchen dazulassen.
In der Proklamation des Führers gestern war ja auch der Satz vielversprechend: 'Nach diesem Kriege gibt es keine Sieger und Besiegte, sondern nur noch Überlebende und Vernichtete.' Auf jeden Fall ist die letzte Illusion genommen worden, dass der Krieg auf die Art, wie er bis jetzt geführt wurde, zu einem guten Ende k äme. Die Unbeschwertheit der Kinder all solchen Aussichten gegenüber ist ja doch beneidens-
Wert und die der Mu ebenfalls. Die ganzen Aussichten stören sie nicht sehr, sie meint, kommt irgend etwas, dann ist immer noch Zeit genug, sich darüber aufzuregen. Siehe Lisbeth, die jetzt in einer Angst schwebt, sie könnte uns weggenommen werden und in einen kriegswichtigen Betrieb gesteckt werden.
Frau Strenger ist gestern ganz plötzlich nach Leipzig gereist zu ihrem Mann. Er ist auf dem Abmarsch nach Russland, und die Liebe scheint wieder hergestellt zu sein.
Hast Du die Brille und das andere Paket bekommen? Für Feldpostpäckchen ist ja seit gestern eine Sperre eingetreten.
Heute abend bist Du also im Konzert. Hoffentlich ein schönes. Ich werde vielleicht zu Frau Schubert gehen. Wann kommt die Zeit, dass wir unseren Hochzeitstag wieder zusammen und hoffentlich recht festlich feiern werden? Wann ist überhaupt dieser Kampf zu Ende?
Draußen gackern die Hühner im Sonnenschein. Dieser Winter ist überhaupt unnatürlich warm. Heute sind es wieder im Schatten am Biedermeierzimmerfenster 15 Grad, die letzten Tage 11 und vierzehn. Die Kinder spielen bis abends ohne Mantel mit kurzen Ärmeln auf der Straße. Ich freue mich ja über diesen warmen Winter, erstens wegen der Kohlen, zweitens kann ich die Kinder im Badezimmer baden und drittens liebe ich ja sowieso die Wärme.
Viele liebe Küsse,
Din Lött
Herr Strenger ist nach Krasnodar gekommen.