Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 23. Mai 1943
Bad Godesberg, den 23.Mai.43
Liebster Mann!
Heute morgen war ich wirklich enttäuscht, als die Post keinen Brief brachte. Ich hatte es felsenfest erwartet und war gestern mit dem Gedanken eingeschlafen, dass ich am Sonntag-morgen endlich mal wieder was von Dir hören würde. Und weil es nun auch noch regnet, war die Enttäuschung desto grösser, denn am Sonntag kommt auch nichts anderes, keine Zeitung, kein Buch, kein Besuch, und nun liegt der Tag so lang vor mir. Die Kinder sind bei diesem Wetter ja unausstehlich, und Helga kann man ja in solchem Zustand vorschlagen, was man will, alles stößt auf Ablehnung.
In vierzehn Tagen habe ich nun Geburtstag, aber heute kann man ja keine vierzehn Tage mehr voraussehen, so können sich entscheidende Ereignisse überschlagen. Früher fing bei mir die Geburtstagsvorfreude schon um diese Zeit an, und das hatte ich Dir zu verdanken, weil Du mir den Tag immer so schön gemacht hast. Aber solche Erinnerungen sind auch ein unverlierbarer Schatz und ich freue mich jetzt an diesen Erinnerungen. Sichtbarer Ausdruck dafür ist das große Stück Lavendelseife, das ja wohl den Krieg über-dauern wird. Ich habe schon lange keine gute Seife mehr, aber ich kann das Stück nun mal nicht anbrechen. Rosen und Pfingstrosen, die ja sonst auch zu meinem Geburtstag gehörten, blühen schon seit mindestens 10 Tagen, sogar die Heckenrosen an unseren Gartenzaun gehen schon auf, und der Jasmin blüht, dass die ganzen Straßen abends voll von seinem Duft sind.
Sehr früh ist das alles dieses Jahr. Ich denke mir, dass
ich meine Bekannten am Vorabend zu Bier und Schnittchen einlade. Am Geburtstag selber werden wohl zum Nachmittagskaffee alle Kränzchendamen uneingeladen anrücken, das haben sie in den letzten Jahren immer so gemacht und dann kann ich mich meinen eigenen Bekannten doch nicht so widmen. Am liebsten würde ich den Tag, wenn schon nicht mit denen, mit den Kindern zubringen, am alierallerliebsten ja mit Dir, aber das ist ja ausgeschlossen, Thea hat morgen Geburtstag, ich beneide sie richtig ein bisschen, denn dort wird der Geburtstag noch richtig auf alte Weise gefeiert mit dem eigenen Mann und einer richtigen kleinen Gesellschaft abends, die nicht nur aus Frauen besteht Und komischerweise macht das Vorbereiten solcher Sachen viel mehr Spaß an der Seite eines Mannes als allein. Wir sind ohne Buch eben doch halbe Menschen.
Das findet auch Fräulein Wolf, und deshalb gedenkt sie zu ehelichen. Es ist zwar ein 68-jähriger Witwer, und er steht religiösen Dingen 'frei' gegenüber, aber das stört auch eine Seele wie Fräulein Wolf nicht mehr, wenn ein Heiratspartner lebendig aufkreuzt. Er hat geäußert, er möchte seine Pension gerne für den Rest seines Lebens in angenehmer Gesellschaft verzehren. Wie Du siehst, hat also auch Fräulein Wolf ihre Reize. Das andere Fräulein Wolff aus der Karl-Finkelnburg-Straße haben sie zur Arbeit geholt. Sie muss im Bahnhof am Buffet Bier zapfen und geniert sich zu Tode.
Die Geschäftsschließungsaktion ist nun auch in Godesberg durchgeführt. Ende nächster Woche machen 52 Läden dicht, darunter Kemp, Schiffers, Poethen, Piccard, Jung, Dreesbach, Beerenrath, Hohendahl, Schneider am Moltkeplatz. Die Geschäftsleute stehen alle mit langen Gesichtern da und ärgern sich über die, die aufbleiben, bei Textilien z. B. Gallep
und Ungerathen; dass Dreesbach schließt und Gutenberg nicht, tut den meisten leid, denn Dreesbach verkaufte immer noch was, und bei Gutenberg konntest Du nie etwas bekommen, z.B. Briefpapier oder Spiele für die Kinder. Genau so war es bei Schiffers. Andererseits kaufen die Leute rasch noch in ihren Geschäften, was sie noch kriegen, und die Geschäftsleute verkaufen jetzt auch aus. Die Bahnhof- und die Koblenzerstraße werden nun ein ganz anderes Bild zeigen, wenn Du kommst.
Gestern sprach ich mit Ilse Düren. Nächste Woche kommen ihre Möbel nach hier, die bei dem letzten Großangriff wie durch ein Wunder verschont geblieben sind. Sie leidet furchtbar unter Theos Verlust, man merkt überhaupt, dass der Schmerz erst jetzt kommt, und sie ist ganz verbittert. Nun hat sie auch kein eigenes Heim, und das Zusammenleben mit ihrer Mutter ist für sie auch nicht erfreulich. Frau Hillenbrand hat ihre hübsche Wohnung und hat den großen Garten, den sie sehr hübsch herrichtet und der ihr neben dem Kind einen Lebensinhalt gibt, wenigstens, was den nächstliegenden Tagesablauf betrifft.
Den Tag mit Arbeit füllen ist ja eigentlich für uns alle das einzige, was die Zeit erträglich macht. Ich mache mir auch immer morgens schon einen Plan, was ich mir für den Tag vor-nehme, Keller putzen oder bestimmte Sachen flicken oder irgendeine Sonderarbeit, auf die man sich neben der sich täglich wiederholenden freut. Auf den Kellerputz habe ich mich nämlich richtig gefreut, und er ist jetzt auch wunderschön geworden, so richtig empfangsbereit für die vielen, vielen Einmachgläser und Vorräte, die ja doch nicht reinkommen. Ich habe auch die Fenster wieder neu blau gestrichen. Nun müssen wir an die Mansarde, die Rumpelkammer, und Lis-
beth näht reizende Kinderkleidchen.
Wir trinken jetzt immer nachmittags auf dem Balkon am Wartezimmer Kaffee, wenn auch das Rankwerk noch nicht da ist. Die beiden Blumenkästen, die vor dem Haus waren, haben wir aber jetzt an das Balkongitter gehängt und stehende Petunien reingepflanzt, damit wir ein klein wenig vor der Neugierde der Vorbeigehenden geschützt sind. Aber weil sie erst gestern reingekommen sind und noch Babys sind, müssen wir auch da Geduld haben.
Pappi, ich muss den Schweinebraten aufsetzen. Gehab Dich wohl und schreib bald. Sind die Zigaretten damals und die Raucherkarte angekommen?
Deine Lotti