Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 25. Mai 1943
Godesberg, den 25.5.43
Mein liebster Mann,
es ist geradezu ein Wunder, dass ich heute abend allein im Zimmer bin, aber ich habe auch ein bisschen nachgeholfen. Seit gestern morgen schon habe ich das Bedürfnis, Dir einen langen Brief zu schreiben, nur um bei Dir zu sein, einen Brief, in dem möglichst wenig vom Krieg steht. So, wie es Dir zumute ist, geht es mir auch oft, auch ich möchte möglichst weit von allen Menschen weg irgendwomit Dir und den Kindern zusammen leben, irgendwo, wo nur Natur, Sonne, Wind und Regen ist. Auch die Freude an solchen Arbeiten, wie ich sie Dir schrieb und die irgendwie aufbauend sind, wie Ranken aufbinden, Keller hausputzen, Kleidungsstücke so herrichten, dass sie wieder Freude machen, Schubladen ordnen und einen Überblick über die vorhandenen Schätze zu bekommen, ist bei mir meistens eine Flucht vor dem seelischen Druck, den all das Geschehen rund um einen auslöst.
War das nicht nett, dass ich heute angerufen habe? So ein Gespräch geht ja verflixt schnell hin, aber hinterher, als ich auf der Couch saß, hatte ich das Gefühl, mit Dir verbunden zu sein, denn wenn Du auch wohl sofort wieder an Deine Arbeit gingst, so waren doch Deine Gedanken sicher wie meine bei dem eben geführten Gespräch und das Wissen war doch sehr schön. Ich bin dann in Gedanken bis an die Schranke am Eingang das Horstes gegangen und habe nach der Baracke rübergesehen, in der Du sitzt. Weiter komme ich ja nicht. Aber den Platz könnte ich noch malen. Überhaupt sind Ausschnitte aus Jever teilweise genauer in meinem Hirn haften geblieben wie manche Häuser und Straßen aus Godesberg, durch die ich oft laufe. Wenn Du mal wieder zu Carels gehst, dann grüße sie bitte.
Draußen regnet es nun schon tagelang. Es wird langsam alles so hübsch klamm in den Häusern, Bett, Buch und Bonbons. Die Bonbons haben wir gestern endlich zugeteilt bekommen, versprochen waren sie ja seit Ostern. Auch die Weinbrandzuteilung ist gestern ausgegeben worden. Es geht ja immer so, wenn man gegen Ende des Monate sparen will, kommen alle die Herrlichkeiten, auf die man ja nicht verzichten will: Süßigkeiten, Wein-
brand, Apfelsinen und Spargel und Sardellen. Alles in einer einzigen Woche, und ich bin gehörig Geld losgeworden. Aber verzichte auch mal einer auf diese Herrlichkeiten. Spargel bekamen wir pro Kopf 250 Gr. Am ersten Tag haben wir den Gemüsespargel mit holländischer Sauce gemacht und Frikadellen und am zweiten Tag uns abends ein Festessen geleistet: Stangenspargel, zerlassene Butter und Rührei. Weißt Du, dahinter hätte dann eine Zigarette gehört. Und die Kinder mögen alle keinen Spargel.
Der Regen schüttet nur so gegen die Fenster. Mir wird immer behaglicher zumut, schon allein bei der Aussicht, dass es dann heute nacht vielleicht keinen Alarm geben wird. Ach, Pappi, aber Du müsstest da sein. Du könntest mir dann so einen herrlichen Kakao machen, den wir beiden dann trinken würden. Wir müssen wirklich dankbar sein, dass uns das Schicksal so viele Urlaube in deiner bisherigen Soldatenzeit gegeben hat, wenn sie auch manchmal kurz waren. Aber ist es schon zwei Jahre her, dass ich Dich in Husum besucht habe? Manchmal fass ich mich an den Kopf, wo die Zeit bleibt. Als der Krieg begann, war Klaus ein halbes Jahr jünger als Jürgen jetzt, und gestern habe ich ihn zur Schule angemeldet. Hoffentlich brauche ich nicht noch Jürgen während Deiner Abwesenheit anzumelden. Mit Ursel wird das ja wohl so kommen. Klaus freut sich unbändig auf die Schule. Er meint, er würde ganz doll lernen. Glaubst Du das so glatt? Er ist nicht sehr für die Arbeit geschaffen.
Jürgen ist schwer zu bändigen. Den Jungen musst du später erziehen. Wir werden mit ihm und auch den anderen manchmal zu vier Frauen nicht fertig. Jürgen wechselt zwischen großer Liebe und unbändigem Trotz, dann haut und tritt er so, dass es eine Art hat, und trifft uns Große so, dass wir senkrecht hochspringen. Er hat einen verflixt sicheren Griff. Haue bewirken bloß, dass er auf uns losgeht. Gestern musste ich lachen. Ich stand an meinem Frisiertische und machte mich, weil es Nachmittag war, recht mit Andacht fertig, cremte meine Hände, bürstete mein Haar und tat so alles, was man tut, wenn man so recht hübsch sein will. Jürgen steht dabei und geht immer wieder an meine kostbare Parfumflasche, schraubt den Verschluss ab und ließ es auch nicht nach wiederholten Ermahnungen. Zum Schluss gebe ich ihm ein paar auf die Finger, und er, wütend, dreht den Kopf nach rechts und links (Du kennst das ja) und sagte immer: "Du machst Diss aber garnisst ssön, du machst diss aber garnisst ssön, du biss aber garniss ssön." Wusste doch der Bengel, womit er mich hätte ärgern können.
Ach, Pappi, ich hatte noch einen zweiten Bogen hier liegen, und der sollte eigentlich auch noch vollgeschrieben werden. Aber das mache ich vielleicht morgen. Jetzt kriegst Du nur einen lieben Gutenachtkuss,
Din Lött