Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 16. Juni 1943
den 16.6.43
Liebster Mann!
Nun kommt der andere Brief. Eben ist ein Strafgericht über das Gespann Ursel-Klaus niedergegangen. Seit einiger Zeit treiben sie sich in der Gegend rum, statt in den Kindergarten zu gehen, Man muss sie schon dort abliefern, um sicher zu gehen, und selbst dann reißt Klaus noch aus.
Überhaupt mache ich mir oft Sorge, jetzt, wo die Kinder größer werden, ob man sie richtig erzieht, ob man sie richtig sieht und ob man als Mutter ihre Schattenseiten, die ich ja genau kenne, nicht zu leicht nimmt oder beschönigt. Manchmal weiß ich nicht, ob ich sie zu sanft behandele, oder ob es richtig ist.
Wesentlich ist bei diesen Dummheiten jetzt eins: Klaus steht dazu, auch wenn es ihm schwer fällt. Und das ist ein wichtiger Punkt, den ich erreicht habe.
Der Regen will überhaupt nicht mehr aufhören. Erdbeeren sehen wir überhaupt nicht und werden wohl auch keine mehr sehen. Gemüse ist sehr rar, meistens gar nicht zu haben. Lisbeth, die Gute, hat uns einen großen Koffer voll Salat, Kirschen und Kohlrabi am Montag mitgebracht. Heute abend gibt es aber wieder die obligate Graupensuppe. Ich glaube, dieser Geburtstagswunsch von Hans wird nicht in Erfüllung gehen.
Vorgestern habe ich einen sehr hübschen Abend bei Fräulein Hunscheidt verlebt und gestern nachmittag einen ebensolchen Kaffee bei Schwingers (er, sie, Frau Von dem Borne und Fräulein Wiegand), und gestern abend war ich bei Hillenbrands, wo Schwester und Schwager aus Berlin sind. Es kamen darüber hinzu: Frau Schwinger, Frau Klausen, Frau Bertram, Frau Ortsiefer und der Bruder Rudi. Es wurde also eine recht schöne und angeregte Runde. Das Gesicht des Bruders kann ich immer wieder heimlich betrachten, es ist eben nicht nur schön, sondern aus den Zügen, besonders dem Mund , spricht so viel menschliche Qualität, dass es eine Freude ist, das Gesicht zu sehen. Das ist übrigens bei dem Gesicht seiner Schwester Toni dasselbe, auch das fesselt mich oft, während sie erzählt, nur durch den Ausdruck.
Im Großen und Ganze stehen alle diese Zusammenkünfte unter dem Thema nächtliche Bombenangriffe. Wir sind hier so nahe an den Katastrophen, so dass man fast stündlich davon hört auf irgendeine Weise. Dazu wird Godesberg überlaufen mit Geschädigten und Unterkunftsuchenden. Hier wird erzählt, und Dr. Schwinger und Frau von dem Borne bestätigen es, und das sind eigentlich beide keine Schwätzer, dass Barmen in der Nacht 8000 Tote hatte. Es kommt, weil Barmen so eng zusammengepresst im Tale liegt, die Leute auf einen Angriff gar nicht einge-
stellt waren und ungeheuer viele in den engen Straßen verbrannt sind. Die Amerikaner haben dann auf die Leute, die brennend in die Wupper sprangen, mit Maschinengewehren geschossen und Benzinflaschen in die brennenden Straßen geworfen. Weißt Du, das ist eine Kampfart, die schon wahrhaft satanisch ist und der Mentalität des Amerikaners (Gangsters, Sektenkirchen mit Jazz und Nackttänzen während des Gottesdienstes zum Anlocken des Publikums,) entspricht. 80 Prozent von Wuppertal-Barmen sind zerstört, während Elberfeld überhaupt nichts mitbekommen hat. Die Elberfelder warten jetzt aber auf ihre Stunde, die wohl auch kommen wird.
Eben kommen die Omis nach Hause. Die Berechnung stimmt genau, die Mu behält 83,- Mk. freies Geld. Ist es da nötig, dass ich 20,- Mk. abgebe? Omi Endemann ist auch wieder obenauf, nachdem sie weiß, dass sie doch Geld hat und will nun direkt zu Dreesen. ----Eben habe ich mit ihr gesprochen, sie will jetzt keine Mieterhöhung. Ist also alles gut.
Und ich bleibe jetzt noch eine Zeit bei Dir, lieber, lieber Harald, unten sitzt der - es ist halb elf - erwachsene Teil der Familie und brät sich Bratkartoffeln, ich habe meine schon einverleibt. Die Graupensuppe heute abend war wenig und hatte kein Fett und deshalb. Dann waren die Mu und ich rasch im Film. 'Der Seniorchef'. Nette Unterhaltung. Otto Wernicke cheft. Als ich nach Hause kam, saß Frau Schwinger da, weil ich der vielleicht ein Kinderbett verkaufen will. Frau Hillenbrand meint allerdings, es sei furchtbar leichtsinnig von mir, so alles Ausgewachsene wegzugeben, aber erstens bleibt es wohl bei den Fünfen, und dann habe ich ihr gesagt, sollte es wider Erwarten eines Tages nicht so sein, holte ich mir bei ihr alles wieder. Worauf sie beruhigt war.
Und Du hast Dich so aufgeregt, als das Gespräch weg war? Papps, schreie doch das Büro nicht an, die können doch nichts dafür. Schön teuer wird es geworden sein, und hinterher denke ich, ich hätte Dir auch was anderes am Telefon erzählen können.
Aber es ist ja so, was man so sagen will, fällt einem in d e m Moment bestimmt nicht ein. Und was magst Du jetzt tun? Du findest, dass drei Tage eine lange Spanne zwischen Briefen ist. Ich fand das ja früher auch, habe mich aber langsam dran gewöhnt. Da ich mich aber dran gewöhnt habe, nahm ich wirklich an, auch Du würdest nicht mehr so toll auf Post warten. Versteh mich richtig, ich warte nicht mehr deshalb, weil Deine Briefe mich nicht interessieren, sondern weil ich mich dran gewöhnt habe, dass sie nur noch in größeren Abständen kommen und sie vorher nicht mehr erwarte. Desto freudiger überrascht bin ich, wenn dann am nächsten oder übernächsten Tag doch ein Brief kommt.
Dass Du den Caspar David Friedrich doch bekommen hast, freut mich, den Brief dafür habe ich nicht bekommen. Es hätte mir nämlich leid getan, wenn er verloren gegangen wäre. Brauchst Du ihn eines Tages nicht mehr, kannst Du ihn ja zurückschicken. Ich habe versucht, ihn nochmal für mich bekommen, aber in allen vier Buchläden war gerade das Heft ausverkauft. Invasion in C.D. Friedrich?
Alle vier Buchläden, das liest Du ganz richtig. Alle vom Amt geschlossenen Geschäfte haben nämlich noch eine Galgenfrist von vier Wochen bekommen, und dabei wird nochmal geprüft, ob die Schließung notwendig war, denn alle Geschäfte haben eine Beschwerde eingelegt. Wann sollte die Aktion doch geschlossen sei? Am 15. März, scheint mir.
Die Omis sind bratkartoffelgesättigt hier oben angekommen. Sie lenken mich erheblich vom Brief ab. Und ich wäre jetzt so gerne mit Dir allein. Sie stöhnen alle beide, wie müde sie sind, aber die Konsequenzen daraus ziehen sie nicht.
Ach Du, ich war doch recht enttäuscht, als Du sagtest, es würde vielleicht nächstes Jahr werden, ehe wir uns sehen. Vielleicht warst Du es ebenfalls, als ich am Telefon sagte, da kann man nichts machen. Aber was sollte ich am Telefon schon sagen? Ärgern kann man sich da nicht, dazu langt die Zeit nicht, und außerdem weiß man nie, ob jemand zuhört. Aber schlimm ist es schon. Hast Du denn nicht mittlerweile den Brief bekommen mit dem auf Deinen Wunsch vom 21. datierten? Und ist da nicht irgendwie ein Arbeitsurlaub möglich? Eine Reise nach Jever scheint wieder zu entschwinden. Erstens weiß man nicht, was in drei Wochen los ist, und zweitens ist eine Fahrt durchs Ruhrgebiet und durch Wuppertal schlimm. Von hier bis Dortmund brauchst Du allein 10 bis 11 Stunden, man kann also gar nicht in einem Tag hinkommen. Ab Köln ist ja alles ein Müll. Frau Schwingers Mädchen, die gestern abend um acht kommen sollte, kam heute morgen um acht. Tante Hanna brauchte von Oberhausen bis hier beinahe neun Stunden. Und besser wird das ja nicht. Sollte ich eines Tages Heidi holen, führe ich über Frankfurt wie im vorigen Jahr. Man kommt so schneller hin wie über die normale Strecke. Aber nach Jever muss man durch Gebiete fahren, von denen man von einem Tag auf den anderen nicht weiß, ob man durchkommt. Überlege Dir das auch mal. Ich lasse mich hier so gründlich über das Thema aus, weil es mich sehr bewegt, denn ich habe ganz einfach Sehnsucht nach Dir und möchte von Dir beschützt werden.
Wir müssen es tragen. Es bleibt gar nichts anders übrig, als uns jeden Tag ganz fest der Tatsache bewusst zu werden, dass es einen Menschen gibt, auf den man sich felsenfest verlassen kann, mit dem man zusammengehört und bei dem man seine Heimat hat, gleichgültig, wie lange und wie weit man getrennt ist.
Zu wissen, dass sich dann dieser Mensch aus dem Gros der anderen durch Haltung und Gesinnung heraushebt, ist beglückend und in der Bedrängnis und dem vielen Schweren dieser Zeit der tiefste Kern.
Ich habe heute die Karte von Jever und Umgebung vorgehabt und bin mit den Augen den Weg zum Horst und den Weg zu Carels Haus gegangen. Denn sogar das ist auf der Generalstabskarte eingezeichnet.
Ich habe so eine wahnsinnige Lust auf Erdbeeren. Wir haben noch keine gesehen und auf unseren Obstabschnitt Kirschen bekommen, und heute wurden die Erdbeeren geliefert. Nun werden wir auch keine mehr kriegen. Aber es war ordentlich schlimm, sie zu sehen.
Sieh doch zu, ob Du nicht bei Carels Obst für uns bekommst, sie haben doch so viel. Vielleicht ist es doch möglich, an einem oder an dem anderen Abend nach dort zu kommen. Ich sehe Dich oft in Gedanken dort auf dem Ledersofa in der Küche sitzen.
Lieber, lieber Harald, ich gehe jetzt ins Bett. Halb zwölf ist es mittlerweile, und vielleicht kommt gleich wieder der Alarm. Deshalb gehe ich aber doch schon ins Bett,
Deine Lotti
den 17.6.
Heute nacht hat's scheinbar Köln erwischt. Der Himmel war ganz rot.