Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 17. Juni 1943
den 17.6.43
Lieber, lieber Pappi,
wo Du doch sagst, dass die Spanne von drei Tagen zu viel ist.... Aber lang wird der Brief nicht, denn Hansi hat noch keinen Dank für ihr reizendes Geburtstagspaket von mir bekommen. Das ist mir vorhin mit Schrecken eingefallen.
Heute Nacht war KöIn dran. Am Abend vorher wurde in dem Hillebrandschen Kreise noch erzählt, dass Flugblätter abgeworfen worden seien, dass als nächste Stadt Köln drankäme. Der Boden bebte von den Luftminen. Schießereien hat man wenig gehört, sicher, weil die Flugzeuge über den Wolken waren. Aber der Himmel war in langen Streifen blutrot. Besonders sollen Deutz und Kalk gelitten haben.
Heute bekam ich Deinen angekündigten Brief. Bitter ist doch die Länge der urlaubslosen Zeit. Aber trotzdem bin ich der Meinung, auch wenn Du dachtest, der Sommer sei die schönere Zeit, den Urlaub dann zu nehmen, wenn Du ihn bekommst. In diesem Fall ist ja das Zusammensein wichtiger als Natur, und außerdem weiß man im nächsten Jahr noch weniger, wo alles hinauswill. Vielleicht, wenn Du den Urlaub sofort, wenn er Dir zusteht, nimmst, bekommst du gegen Weihnachten wieder fünf Tage zum Fest zugebilligt.
Ich glaube wiederum, dass meine Reise nach Jever immer problematischer wird. Im vorigen Jahre war es noch so, dass, wenn eine Strecke zerstört war, man damit rechnen konnte, dass sie in einigen Tagen befahrbar sei, nun ist es so, dass sie durch die Zeit immer schwieriger wird. Die Reichsbahn fuhr heute bis Kalscheuren und die Rheinuferbahn bis Wesseling. Morgen rufe ich Dich an und sage Dir, dass Möckel erst nächste Woche fährt.
Ich lese 'Gärten und Straßen' aus den Tagebüchern von1939 und 1940 von Ernst Jünger (war das nicht der frühere Wandervogel?) Er hat Bücher problematischen Inhalts herausgegeben.
Ein Tagebuchabschnitt lautet: Grumbach, 18. Mai 1940. Und dann schildert er die Unterkunft beim dortigen Pfarrer (unserem Grashoff): 'Über Lauterecken nach Grumbach, das lieblich in Obsthängen eingekesselt liegt. Kam mit den beiden Offizieren bei Pfarrer unter. Ich bin unter dem Dache in einem Kämmerchen untergebracht mit schönem Ausblick auf blühende Wiesen und Kastanien. Unter dem Mobiliar fällt mir ein abgenutzter Schreibtisch mit schwarzer Marmorplatte auf, in der neben hellen Korallengliedern auch eine Muschel von der Größe eines Hühnereis versteinert ist, im feinen Querschliff, der die hohen Rippen des Kammes gleich Stacheln und das Schloss gleich Zacken trägt. Das kleine Phänomen war, wie ich nachher beim Abendessen erfuhr, noch nicht beobachtet, obwohl der Tisch seit Jahrzehnten im Hause steht.'
Da dieser Jünger sehr viel Reflexionen in seinem Buch über die Menschen, die ihm begegnen, anstellt, scheint ihm unser guter Pfarrer Grashoff in dieser Beziehung weniger wichtig gewesen zu sein als der Waschtisch. Aber wird unser Pfarrer nicht Grund zu Betrachtungen gefunden haben über den Nachnamen dieses Herrn und damit das Essen gewürzt haben?
Und draußen regnet es. Dafür scheint dann in der Nacht der Mond hell und klar, und wir müssen aus den Betten. Harald und wenn ich zu Dir führe, wo könnte ich wohl unterwegs übernachten? Und wie bekäme ich Unterkunft? Denn in einem Tag nach Jever zu kommen ist wohl ausgeschlossen. Ich glaube, die Reise bleibt Phantasie und am besten abstrahiert man sich von dem nächsten halben Jahr und wird Zuschauer, sieht zu, was draus wird und versucht, ohne Gefühle zu sein. Wenn das ginge.
Ich glaube, aus dem Brief an Hansi wird heute abend doch nichts mehr. Ich bin nicht mehr wendig genug, um einen neuen anzufangen, die vielen Alarmnächte haben einen müde gemacht und sich in meinem Body aufgespeichert, die ich erstmal wegschlafen muss. Wir machen uns jetzt eine Tasse Kakao. Der Vorschlag stammt von mir. Ich bin so müde und Du weißt, dass das dann bei mir dazu gehört. Du müsstest ihn jetzt an mein Bett bringen und wir würden ihn dann zusammen austrinken und Zwieback dazu essen und es würde alles wunderschön…
Morgen will ich oder vielmehr muss ich zum Zahnarzt. Ich habe mich selber hinbestellt. Zu Parensen. Ein anderer war nicht da, und Ilse Gesler ist von Anfang Juni bis Mitte Juli nach Oberbayern verreist. Die macht sich die Praxis auch nicht zu schwer. Ilse Gesler findet meine Zähne sehr schlimm, der gar nicht. Es ist eben alles so, wie die Menschen es sehen. Der repariert mir auch den Zahn, den Ilse Gesler nicht mehr reparieren wollte. Aber Zahnarzt ist wirklich etwas Schreckliches.
Ich müsste jetzt eigentlich zu Schmidt nach Ittenbach, kann mich aber nicht aufraffen. Erstens regnet es seit zweieinhalb Wochen, und zweitens habe ich keine Lust, ohne Dich den Weg hinter dem Siebengebirge herzulaufen, und hätte beinahe Lust, das Jackenkleid für diesmal schwimmen zulassen. Ich gehe nun ins Bett, schon um einige Minuten ungestört zu sein. Omis und Lisbeth sitzen jeden Abend hier. Mein Zimmer gehört mir schon lange nicht mehr. Das ist manchmal doch schwer zu ertragen. Wie soll ich das ändern? Aber wenn Du Urlaub bekommst, wird in unsere Zimmer gebeten oder nicht, das ist sicher. – Weißt Du, was ich später einmal haben möchte? Ein Bild von einer Landschaft dort oben, vom Watt oder dem friesischen Land. Das muß dann später in unserem Zimmer hängen. Vielleicht entdeckst Du einmal in Jever einen Maler von Format.
1000 liebe Küsse.
Deine Lotti