Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 9. August 1943
den 9.8.43
Liebster Mann!
Dieser Brief soll sagen, dass ich gut angekommen bin. Der Zug war traumhaft voll. Was man so annimmt in Bezug auf Züge stimmt nie. Der Zug kam nämlich aus Gleiwitz und war vollgepackt mit Kölnern, die entweder beim Kriegsschädenamt zu tun hatten oder die restlichen Möbel verladen wollten oder sonst irgend etwas in Köln zu erledigen hatten. Wie ich schon das rheinische Stimmengewirr hörte, sank die Hoffnung, irgendwo unterwegs einen Platz zu bekommen, und das stimmte dann auch. Ich habe mich aber abgewechselt. Schlimmer war schon, dass ich unterwegs heftige Magenschmerzen bekam und irgendwo hinmusste. Ich kam auch nach heftigem Kampf bis ungefähr auf zweieinhalb Meter ran, und dann war Schluss. Ich musste warten, bis Bielefeld erreicht war, was noch ungefähr zwanzig Minuten dauerte, aber als ich dann wirklich an die ersehnte Türe kam, war der Ort mit sieben!!! Mann bestanden und ihren Koffern.
Ich hätte einen Mord begehen können, aber als die Leute mein verzweifeltes Gesicht sahen, erboten sich die Herren, so lange rauszugehen, und die Damen mussten dann eben miterleben, was ich tat. Da sämtliche Toiletten im Zug auf diese Weise besetzt waren, hatte es auch keinen Zweck, sich irgendwo andershin durchzuschlagen.
Helgas Glück war unbeschreiblich, als sie Heidi wiedersah. Im übrigen habe ich als böse Mutti reichlich Ohrfeigen ausgeteilt. Nach der Harmonie der letzten Tage fiel mir der Kinderkrach und ihr Durcheinander reichlich auf die Nerven, und ich wollte mit einmal wohlerzogene und nicht zu hörende Kinder haben, aber man dringt bei dieser Horde ja nicht durch.
Weißt Du, eigentlich müsste man doch Tagebuch führen, wenigstens kurze Notizen machen und wäre es nur für die Zeit des Urlaubs. Es ist zu schade, dass man Einzelheiten nachher
Vergisst. Ich möchte aus diesen acht Tagen auch nichts vergessen, grosse und kleine Dinge nicht, schöne, die nur wir wissen und äusserliche. Wie mach man das blos? Können wir uns irgendein Buch für uns anlegen? Vielleicht sind die gemeinsamen Urlaube noch in der späteren Zukunft das schönste, was wir in diesem Leben haben konnten, wenn ich das ja auch gerade nicht hoffe. Aber alles ist ja so ungeklärt.
Dabei will ich Dich noch etwas fragen, damit keine Unklarheiten zwischen uns auftauchen. Die Mu erzählte mir heute, ziemlich vorwurfsvoll natürlich, und dabei weiss ich nicht, ob sie das richtig verstanden hat, Du hättest bei Heuses von Deinem Beruf gesprochen und hättest dabei gesagt, dass, da Du nicht wüsstest, ob Du nach dem Krieg Deinen Beruf wieder aufbauen könntest, Du Dich als Besatzungssoldat nach Litzmannstadt oder irgendwowohin melden wolltest. Die Mu meinte natürlich empört, wenn Du keine weiteren Ziele hättest usw. usw. Jetzt möchte ich blos wissen, was die Mu nun wieder verstanden hat, und deshalb bitte ich Dich, mir das Richtige zu schreiben, damit ich der Mu Bescheid sagen kann.
Und nun leben wir Beide auf den September zu, ob nun was daraus wird oder nicht. Bei den früheren Urlauben zehrte man von der Erinnerung, jetzt, durch das zweimalige Wiedersehen, finde ich, wird man happiger und ersehnt nur das neue Zusammensein. Ich werde aber in diesen sechs Wochen die wir warten müssen, mich so intensiv mit Haushalt und Kindern beschäftigen, so richtig aus tiefster Seele heraus und aus der Liebe zu Dir, dass ich mich, wenn Du kommst, wieder ganz Dir widmen kann. Es ist so sehr vieles zu tun, und ich hatte heute wirklich den Wunsch,, ein Tag in einem Haushalt mit so vielen Kindern müsste 48 Stunden haben. Er ist einfach zu kurz.
Und ich gehe nun ins Bett, denn ich bin reichlich müde. Schreibe mir bitte, wann ich die Briefe wieder über Hamburg schicken kann.
Viele liebe Küsse. Deine Lotti