Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 18. August 1943

den 18.8.43

Liebster Mann!

Heute haben mich die Kleinen wirklich durch die Mangel gedreht. Manchmal habe ich das Gefühl, ich hätte zehn statt fünf Kinder. Ich müsste jetzt wieder an den großen Stopfkorb, aber ich habe die innere Ruhe nicht dazu.

Ich möchte jetzt nur bei Dir sein und mich ausruhen. Das ist es. Die Nachricht über die Rückführung der deutschen Truppen aus Sizilien, wenn sie auch nicht unerwartet kam, ist doch traurig. Dazu hatten wir, damit wir nur ja den Krieg nicht vergessen, heute dreimal Voralarm und dreimal richtigen. Alles am Tage. Zu Hunderten (im Ganzen genommen natürlich) sah man sie in Pulks hoch über uns daher fliegen. Es ärgert aber doch, wenn man sieht, wie die Biester in geschlossenen Formationen stetig ihre Bahn ziehen und die Sprengwolken der Flak wie harmlose Wölkchen um sie herumfliegen.

Sie flogen alle genau über unserem Ort, und die Leute erzählen sich, sie seien in Koblenz und Mannheim gewesen. Ob das stimmt, wird ja erst der Wehrmachtbericht erzählen. Wenn das mit den Tagesalarmen so bleibt, kann es ja reichlich unterhaltend werden. Ich habe auf jeden Fall den Kindern von jetzt ab das Strandbad verboten, denn ich möchte nicht, dass sie bei einem Alarm dort, wo kein Luftschutzkeller ist, mit der Masse im Eingang stehen. Wenn auch keine Bomben fallen werden, so haben wir doch heftige Flakabwehr, so dass die Splitter förmlich herunterregnen.

Für Klaus war das Ganze, und für die anderen übrigens auch, eine heftige Sensation. Jürgen will sogar gerade in solchen Momenten ausreißen, und alle stürzen auf den Balkon in der zweiten Etage, damit sie nur ja nichts verpassen. Ich expediere sie natürlich bei richtigem Alarm, besonders wenn die Pulks heranfliegen, in den Keller, wo sie hingehören.

Ich möchte mich so gerne vom Krieg heute gedanklich lösen. Ich kann das auch schon richtig, das Umschalten, und tue dann für einen Teil des Abends, als ob es keinen Krieg

gäbe, beschäftige mich mit Büchern, die einem die schöne Seite des Lebens zeigen.

Übermorgen soll ich zu Schmidt nach Ittenbach kommen, habe aber keine richtige Lust dazu.

Heute bekam ich Deinen Brief, in dem Du vom Dr. Schreibst. Das stimmt, denn wenn ich Leute, die nach Dir fragten, an Deine Kollegen verwies und sagte: Gehen Sie zu Klemmer oder Dr. Brüning oder Merrem, so war jedes Mal die Gegenfrage: Wo wohnt Dr. Brüning? Ich machte mir schon förmlich ein Spiel daraus und wusste, dass, in den ganzen Jahren vielleicht mit einer oder zwei Ausnahmen, die Leute dann zuerst nach der Adresse Dr. Brünings fragten, eben nur, weil er den Doktortitel hat. Mir würde es ja in einer fremden Stadt genau so gehen und ich hatte schon immer vor, Dir das zu erzählen als Beweis, wie ein Titel gesellschaftlich und geschäftlich doch noch heute wirkt. Ist man ja erst bekannt, tut es der Titel ja nicht mehr, nur die Persönlichkeit und deswegen konnte Dir Brüning in Godesberg ja nicht den Rang ablaufen, aber eben für Unbekannte.

Du wirst ja wohl auch mittlerweile meinen Brief haben. Aber Du hast recht, eine Nervensäge sind die Briefe heute schon mit ihrer langen Laufzeit. Du glaubst aber auch nicht, was mich Deine Briefe, wenn sie morgens auf dem Kaffeetisch liegen, freuen. Gerade jetzt kann ich sie so gut als Trost und Schutz brauchen. Wenn Du von mir nicht gerade täglich einen bekommst, so sind meine erstens länger, und zweitens muss ich sie frankieren. Aber jeden zweiten Tag schreibe ich doch.

— Die Omis, Fräulein Hessel und die Schwägerin von Frau Richter, die in Köln wohnt und z.Zt. hier im Unverzagt ist, und ich haben heute abend ein Glas Bier in der ´Traube´ getrunken. Gemütlich war es gar nicht, Frau Richter hat so viel Schauerliches aus Köln erzählt, dass für heute neben den Aufregungen mein Bedarf reichlich gedeckt ist und ich meine Nerven zum Zerreißen gespannt fühle. In solchen Momenten meine ich dann, es wäre doch gut, eine eventuelle Evakuierung der Kinder durchzusprechen. Weißt Du, man selber kommt auch gar nicht deshalb ernsthaft auf die Idee einer Verschickung (ich kann das Wort Evakuierung bald nicht mehr hören) weil ich vor dem Fragenkomplex, was wird aus dem Haus, den Möbeln, wie gestaltet sich alles, ziemlich hilflos dastehe.

Wenn, dann möchte ich doch, wenn es irgend geht, mir selber etwas suchen. Einer Verschickung durch die N.S.V. stehe ich ziemlich skeptisch gegenüber. Die stopft einen irgendwohin, ob man dahin passt oder nicht, ist egal. Dafür hat man die Fahrt frei. Den Aufenthalt nicht mehr. Ich muss meinen Familienunterhalt angeben, und dann wird im Rahmen des Einkommens ein Betrag festgesetzt, den ich abgeben muss. Dann möchte ich aber lieber schon für mich was suchen. Tante Klara in Metzingen hat mir ja Unterkunft mit einem Kind angeboten. Mehr Platz hat sie nicht. Mit fünf Kindern wird ein Unterkommen schon sehr schwer. Aber wo ist Sicherheit? Aber sechsmal Sirene heute, wenn auch schließlich nur drei davon wirklich gefährlich waren, das fährt einem schon ins Gebein.

Und ich werde jetzt mit Gewalt umschalten, Pappi, und vor der Nacht ein Goethesches oder Hölderlinsches Gedicht lesen und ein paar Seiten Fontane. Und wenn ich dann einschlafe, werde ich mir einbilden, ich liege in Deinen Armen in Jever und werde an Berlin denken und an unsere Zukunft, zuerst mal an die Urlaube, die noch kommen werden und werde alle wenns und abers außer Acht lassen. Gute Nacht, mein lieber, lieber Mann.

den 18.

Eben bekam ich wieder zwei Briefe von Dir. So wenig Post bekommst Du doch eigentlich nicht von mir, oder sollte Post verloren gegangen sein? Der Wehrmachtbericht meldet nur zwei süddeutsche Städte, aber nicht welche. Immerhin stand in der Zeitung, dass zwei Bomber gestern mittag auf schweizerischem Gebiet notgelandet sind, sie werden also immer frecher und wagen am Tag immer weitere Flüge.

Fies schoss mir ins Herz, dass der Urlaub fraglich ist, aber was ist heute nicht fraglich bis in vier Wochen. Ich bin jetzt manchmal dem Haushalt gegenüber richtig teilnahmslos, trotzdem ich es nicht sein möchte. Ich warte eigentlich nur auf Post von Dir, auf Deinen Urlaub und auf die Weiterentwicklung der Lage. Man müsste alles ausschalten können, damit man den richtigen Genuss am Leben hat. Aber unser Zusammensein ist auch noch zu kurz her und ich bin noch zu beeindruckt davon, sodass ich von morgens bis mittags und auf den nächsten Morgen immer wieder warte, ob ein paar Worte von Dir kommen und was Du zu diesem und jenem sagst.

Ob in Bonn Bekannte getroffen sind, weiß ich nicht, bloß sind täglich die Zeitungen voller Todesanzeigen von oben

bis unten, und der ‚Westdeutsche' bringt Artikel über den Angriff. - Der Wehrmachtbericht sprach auch von einem Angriff auf das norddeutsche Küstengebiet, ohne Städtenamen zu nennen. Ist da die Stettiner Ecke mit gemeint oder mehr nach Hamburg zu? Und gewöhnt er sich ab, überhaupt Städtenamen zu nennen?

Ich werde gebraucht. Viele liebe Küsse, Deine Lotti