Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 10. Oktober 1943
den 10.Oktober 43
Lieber Mann!
Unser Sohn Jürgen ist heute getauft worden. Überraschend schnell findest Du nicht auch? Nicht was sein Alter angeht, aber der Entschluss. Es kam so: Als ich gestern morgen Omi Endemann im Krankenhaus meinen Besuch machte, sagte sie: "Lotti, krieg keinen Schreck, Jürgen wird morgen getauft, ich habe es mit Pfarrer Kolfhaus ausgemacht."
Weil das Ganze nun so plötzlich kam, ist Jürgen auch heute ohne Feierlichkeit (Fest können wir so schnell keins geben, und Lisbeth hatte sowieso vor, nach Zissendorf zu fahren) getauft worden. Da bei mir gestern eine Grippe im Anzug war und ich auch schon Fieber hatte, musste ich sie mit Medikamenten totschlagen, auch schon deshalb, weil ich im Haus augenblicklich gar nicht entbehrt werden kann. Im übrigen hatte ich auch nicht viel Zeit, mich auf die feierliche Handlung vorzubereiten, denn weil Lisbeth nicht da war, musste ich ja das Haus, wenn auch nur flüchtig, in Ordnung bringen, und als ich dann die Kinder schön machen wollte für den Gang zur Kirche, fehlte die Hauptperson, der Täufling.
Ich bin wirklich wie ein Hecht im Karpfenteich hin- und hergeschossen, um ihn zu suchen, denn schließlich hing an seinem Erscheinen der Start der Feier. Ich fand ihn dann auch, mit Ursel vom Hitlerplatz kommend. Ja, und vorher war mir noch eingefallen, dass ich ja das Stammbuch brauchen würde, und wollte es aus der Mappe im Schreibtisch holen, aber da lag es nicht. Omi Endemann hatte aus Furcht vor Fliegerangriffen die Mappe im Keller in Eure eiserne Kassette getan, den Schlüssel dazu aber mit sich ins Krankenhaus genommen. Helga wurde also im vollen Galopp hingeschickt, um ihn zu holen.
Ich machte Jürgen dann fein und schickte ihn, um alle Zwischenfälle zu vermeiden, aufs Klo. Als er nicht wiederkam, stellte ich fest, dass er sich dort eingeschlossen hatte, und ich stand nun händeringend draußen, trommelte an die Türe und bat ihn aufzumachen, wir hätten keine Zeit mehr. "Ich aber", war seine seelenruhige Antwort, und er trompete in Seelenruhe weiter. Wie ich dann zum Schluss fertig mit ihm herunterkam und wir anderen uns die Mäntel anzogen, lag der Jüngling mit seinem seidenen Anzug auf der Erde im Flur und robbte und behauptete, er wäre jetzt ein Tier. Er wollte sich auch absolut nicht auf die Füße stellen lassen.
Nach allen diesen Vorbereitungen ging dann der Taufakt in der Kirche unter dem neuen Pfarrer Post verblüffend ruhig vor sich, aber nach
der Taufe, ich sprach gerade mit dem Pfarrer, sträubten sich mir die Haare, da sausten Ursel und Jürgen plötzlich lachend und kreischend um den Altar und spielten Nachlaufen, und als ich Jürgen fangen wollte, ging das nicht, denn der sah das für einen neuen Spaß an und riss mir immer wieder um den Altar rum aus.
Gestern sagte ich zu Jürgen: "Jürgen, Du wirst morgen getauft." Da meinte er sachlich: "Magste mich denn nicht mehr leiden?" Er meinte, ich wolle ihn tauschen.
Heute kam wieder ein Brief von Dir. Schön, dass die neue Urlaubsregelung gekommen ist. Auch wenn die Reise bezahlt werden muss, so kann man sich doch alle zwei Monate auf ein kurzes Wiedersehen freuen und wenn man Nachts reisen kann, werden die Tage künstlich in die Länge gezogen.
Im Wehrmachtsbericht hörte ich jetzt öfter von Angriffen auf die Deutsche Bucht. Klar, dass meine Gedanken dann sofort nach Jever schalten und ob dort was passiert ist.
Draußen ist das Wetter wundervoll, ein richtiger Spätsommertag. Nach dem Kaffee werde ich zu Mutter gehen und heute abend mit den Großen vielleicht Gesellschaftsspiele spielen. Diese Woche müssen wir dann unbedingt mit den Winterkleidern für mich und die Kinder an fangen. Wir wissen blos nicht, wie wir es unterbringen im Tagesablauf.
Viele liebe Küsse, Deine Lotti.